Hendrik Krawen
Lexicon Discothek Bon

Hendrik Krawen wurde neben Leni Hoffmann im Frühjahr 1994 von einer fünfköpfigen Jury einstimmig zum Stipendiaten der Günther-Peill-Stiftung ernannt. Die Ausstellung im Leopold-Hoesch-Museum sowie der vorliegende Ausstellungskatalog geben einen Einblick in das Schaffen des Künstlers während der zweijährigen Förderungszeit. Der Vorschlag, Hendrik Krawen zu fördern, kam von Dr. Christiane Vielhaber, die die besondere Begabung des Nachwuchskünstlers schon früh erkannte.

Hendrik Krawen gehört zu den jungen Künstlern, die für sich die Malerei wiederentdeckten. Seine Landschaften eröffnen neue Dimensionen unterschiedlicher Wirklichkeiten. Sie verweisen auf eine komplex erlebte Welt, die nicht mehr nur eine gültige Wahrheit und eine einzige Wirklichkeit zulässt. Statische Ornamentik wandelt sich im Spiegelbild zu dynamisch Naturhaftem, - eine monumentale Schiffskonstruktion aus minutiös gemalten Buchstabenfolgen mutiert zur lebendig irisierenden Reflexion auf einer Wasseroberfläche; der bis ins Detail ausgearbeitete Stuck spiegelt sich in neuer Realität als luftiger Wolkenhauch.

Realistisch erscheinende Bildgegenstände stehen vor pastoser, jeglicher Binnenstruktur baren Farbfläche. Die Horizontale im Bild kennzeichnet die Achse zwischen der Wirklichkeit des statisch Konkreten und dem sich spiegelnd Unkontrollierten. Die Horizontale markiert und verwischt zugleich die vielschichtigen Ebenen gültiger Wahrheiten in einer multipel erlebten Welt, aus deren komplexem Chaos sich mehrere erkennbare Wirklichkeiten herauskristallisieren.

Dorothea Eimert

Hendrik Krawen

Ist es vielleicht bezeichnend, dass es kein Kunsthistoriker bzw. -kritiker, sondern ein Literaturwissenschaftler war, der ein zwar binsenwahres, gleichwohl selten ausgesprochenes rezeptionsästhetisches Phänomen auf den folgenden einfachen Punkt brachte? „Es gibt“, so sagte es Peter Michelsen einmal, „keine Kunst der Vergangenheit, nur eine, die Gegenwart ist“.

Möglich, dass er damit in erster Linie auf die Kunst sprachlicher Formulierungen und Sprachbilder abzielte, die, sei es in Alt- oder Mittelhochdeutsch, in barocken Metaphern, in romantischen Verklärungen oder expressionistisch knappen Pathosformeln, bis heute nichts von ihrer Kraft des Gegenwärtigen verloren haben, weil sie ebenso authentisch wie wahr sind, aber eins nie gewesen sind: nämlich modisch! Eins jedoch waren sie jeweils: modern, d.h. neuzeitlich und neuartig in ihren Mitteln. So, wie es z.B. auch die Sprache der Architektur sein kann. Denn auch sie kennt klassische Würde- und Pathosformeln, argumentiert mit ornamentaler Ausschmückung oder Verknappung, mit Opulenz der Formulierungslust oder mit rationaler Klarheit. Ihre Modernität beweist die Baukunst im adäquaten, materialgerechten und mitunter kühnen Verwenden neuzeitlicher und neuartiger Baustoffe. Und übertragen auf die Literatur heißt das, dass sie wiederum ihre Modernität im vergleichbaren Verwenden der ihr zur Verfügung stehenden Bausteine beweist, nicht jedoch mit modischen Vokabeln oder Zeitgeist-Slang.

Was aber ist mit der bildenden Kunst? Sind es vielleicht ihre Themen, mit denen sie ihre Gegenwärtigkeit und Modernität unterstreicht? Ist es der Stil, in dem sie gemalt sind? Waren aber dann z.B. abstrakte, die vom Gegenstand freie, die informell entgrenzte, die monochrom radikalisierte Malerei nur noch Kunst der Vergangenheit, als plötzlich die heftige, wilde figurative Malerei mit dem Absolutheitsanspruch eines verbindlich modernen Zeitgeistes lautstark die Szene beherrschte? Nein, nur scheinbar! Denn die Karawane ist inzwischen längst weitergezogen und hat auch diese Ausdrucksform der Kunst als eine von vielen auf dem Felde der Vergangenheit zurückgelassen. Sie war nicht modern, diese Kunst, sie lag schlicht und ergreifend (allerdings weder das eine noch das andere im wahrsten Wortsinn zu verstehen) im Trend! Sie war auch nicht postmodern, ein immer noch höchst umstrittener Ausdruck, den der amerikanische Architekturkritiker Charles Jencks vor genau 20 Jahren für eine damals virulente Form des Bauens fand. Eine, die mit allerlei neckischem Zierrat gegen ein von Funktionalismus und Rationalismus geprägtes architektonisches Denken aufbegehrte. Moralisierende baupolitische Korrektheit war dieser sogenannten Postmoderne ein Greuel. Und schnell fand dieser Begriff auch seine Verwendung in der Kunstkritik für zeitgleiche ästhetische Phänomene. Angewendet wurde er auch hier für die Kunst des ebenso hemmungslosen Zitierens aus dem Fundus der figurativen Vormoderne; für die eklektizistische Stilmixtur aus vergangenen nicht klassisch-modernen Ismen wie gleichermaßen für eine spontane, zutiefst subjektive, betont unordentliche, unvollkommende Malweise.

Angesichts der Malerei von Hendrik Krawen, die durch ihre Akkuratesse, durch ihre Klarheit der Form, durch ihre Präzision im Bildaufbau und ihre scheinbare Neutralität der Bildaussage besticht und die das Kunstschöne der banalen Dinge im Grunde nicht weniger romantisch als ein Eduard Möricke („Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst“) beschwört, ist sie, vor allem als Widerpart zur Postmoderne, als moderne Malerei zu bezeichnen. Ob der Künstler sich über ein solches Etikett freut, mag hier dahingestellt bleiben. Die Frage aber, was es denn überhaupt heißt, ein moderner Maler zu sein, hat er sich spätestens an der Düsseldorfer Akademie, als Schüler in der Klasse von Alfonso Hüppi gestellt, nachdem er sich zuvor schon in seiner Heimatstadt Lübeck zunächst das angeeignet hatte, was wir gemein als Handwerkszeug bezeichnen. Ich kann nicht verhehlen, wie verwundert ich damals, das muss Ende der 80er Jahre gewesen sein, beim traditionellen Akademie-Rundgang von den Bildern dieses jungen Malers stand. Sie erschienen mir ebenso modern wie irgendwie unmodern. Nur eins nicht: postmodern! Und auch ein anderes nicht: anachronistisch! Verglichen mit der anderen Kunst, nicht nur in diesen „Klassenräumen“, sondern auch mit jener, die damals gängig war und den Markt beherrschte, lieferten diese ungewöhnlich malerischen und unzeitgemäßen Interieurs von Hendrik Krawen den Beweis für die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und argumentierten darüber hinaus sogar bildimmanent mit diesem Phänomen. Auf diesen Bildern erschien nämlich jeweils ein zierliches und z.T. skelettiertes, zerbrechliches Louis XVI-Sofa. Aber eben nicht in modisch neusachlicher Präzision wiedergegeben, sondern vielmehr als stimmungsvoll impressionistisch anmutenden Stilleben. Anderswo spielte er mit der umwölkten, nachschöpferischen Luftigkeit illusionistischer Deckenmalerei, stemmte sich mit gleichwohl leichten Pinselschwüngen gegen den gegenreformatorischen horror vacui oder fühlte sich nachschöpferisch ein in die höfische, salonhafte Zartheit der hingehauchten Motivwelt eines Fragonard. Später malte er dann Vedouten mit klassischen Schloss- oder Dom-Architekturen, ähnlich, wie es früher ein Canaletto oder ein Guardi stimmungsbeschwörend getan haben, wobei aber dann doch jeweils die Perspektiven, der Pinselduktus und die Wahl der Farben einen „modernen“ Maler verrieten. Und im Gegenzug malte er „moderne“ nüchtern-kalte Wohnmaschinen, die durch seine Art der Malerei plötzlich wie unheimlich anheimelnde, altmodische Behausungen wirkten.

Und wo andere das Ornament als Gestaltungsprinzip in den Bauwerken unserer Gegenwart vermissen, da entdeckte es dieser Künstler gerade dort, wo wir es üblicherweise nicht vermuten oder auch nur nicht wahrnehmen: in der technoiden Anordnung und Funktionalität von Rolltreppen und Spielzeug-Rennbahnen z.B. und in ihrer gelassenen ornamentalen Schönheit. In seiner Malerei gewannen sie so einen eigentümlichen emblematischen Charakter. Andersherum ist er dann aber auch verfahren, in dem er z.B. die rein malerische Qualität bekannter Emblemata hervorkehrte, die für nichts anderes stehen als für das, was sie versinnbildlichen. Und selbst dies konnte er dann noch, wieder herumkehrend, steigern, indem er nicht mehr die Musikinstrumente etwa, wie wir sie z.B. auf klassizistischen Supraporten finden, ins Bild setzte, sondern nur noch das geschriebene Wort „Musik“ malte. Vieles davon ist weder realiter in der aktuellen Dürener Ausstellung noch rückblickend hier im Katalog zu finden. Aber all diese Schritte, dieses malerische Vorformulieren in einer Sprache der Kunst, die das Gegenwärtige gültig transportiert, ohne modisch zu sein, und die das Vergangene in sich einschließt, ohne unmodern zu sein, sind in dem schnörkellos-realistischen Kosmos seiner Bilder von heute nachvollziehbar. Der Künstler selbst hat die Brücke mit seiner bereits 1979 begonnenen Zeichnung einer imaginären Stadt gebaut, als er sich entschied, diesen sehr frühen „Versuch einer realistischen Zeichnung“ in diese Ausstellung zu intrigieren. Es ist dies das Protokoll einer unendlichen Geschichte, einer Sisyphosarbeit, bei der immer wieder Planquadrate ausradiert und neu aufgebaut bzw. getüpfelt und gestrichelt wurden und noch werden. Der urban-phantastische Raum am Fluss als historisch mit- und zeittypisches und -gemäßes nachwachsendes Spielfeld für den Künstler! Was dort auf dem Blatt nur ein kleines graues Pünktchen oder Viereck ist, steht stellvertretend für ein Haus z.B., einen Garten oder einen Gebäudekomplex mit seiner eigenen Sprache der Architektur.

Die internationale Moderne schalt das Ornament ein Verbrechen, aber in der Malerei von Hendrik Krawen sind Friese und Gesimse mit Zahnschnittleiste oder Eierstabrelief nicht allein dazu da, den Bildaufbau horizontal zu gliedern und dem Auge einen Anhaltspunkt zu geben. Sie sind vielmehr ein plastisch ausformuliertes Plädoyer für die Notwendigkeit ornamental klarer Strukturen sowohl im Bild- als auch im Lebensraum. In seinen jüngsten Bildern zeigen sich diese Friese sogar bis auf ihre allerfeinsten linearen und dünnsten Gräten im ansonsten monochromen Bildraum bis zur Unkenntlichkeit filetiert. Denkbar aber auch als ein auf seine Grundform reduziertes und abstrahiertes Wolkenband!

Ich glaube, dass sich in Hendrik Krawens Bildern auch jene Einsicht malerisch manifestiert, nach der wir zwar alle unter dem selben Himmel leben aber nicht alle den gleichen Horizont haben. Im übrigen auch nicht die gleiche Perspektive! Sind seine Bilder doch häufig gerade so konzipiert, dass sie den normalen Seherfahrungen des Betrachters widersprechen, d.h. wir blicken in die Augenhöhe so auf die Bilder, als würden wir von unten auf sie hinaufschauen. Das ist der Kunstgriff des Künstlers, mit dem er seine Vorstellung von einem realistischen Bild malerisch in den Griff zu bekommen versucht. Es ist dies eine schöne und zugleich seine Vorstellung der realen Dingwelt und keine Vorstellung einer schönen Realität. Sein zweiter Kunstgriff besteht darin, die Wirklichkeit nicht nachzuahmen oder gar abzumalen, sondern sie im Gegenteil mit Präzision zu verfehlen. Das geschieht nicht durch Verfremdung, Deformation oder Abstraktion der Gegenstände, denn die Lampe, das Paar Schuhe, die Brikkets, die Streichholzschachtel, die Thunfischdose, der Löffel - sie alle erscheinen als die, die ihm jeweils als Modell dienten (und die übrigens auch so in seinem Atelier wiederzufinden sind!). In der Malerei aber verlieren sie ihre alltägliche Bedeutung und werden mit einer neuen, fremden und anderen aufgeladen. Erstens durch den ungewohnten Zusammenhang, in dem sie plötzlich im Bild erscheinen, und zweitens durch ihre neue Dimension. Es sind viele, kleine oft einander sehr ähnliche, formale Informationen, die gut les- und sichtbar in seinen Bildern wie einem Nachschlagewerk gespeichert und somit abrufbar sind. Und auch die Farbe als Ausdrucksträger liefert ihre wirkungsästhetischen Informationen dazu. Partienweise glänzt sie z.B. metallisch, anderswo erscheint sie stumpf, manchmal wirkt die Leinwand wie angestrichen, und dann argumentiert sie auch wieder durch die spezifisch malerischen Qualitäten seiner früheren Arbeiten.

Ich sehe darin eine „moderne“ Form vor romantischen Stimmungsbildern. Und mehr noch! Die nüchtern präzis formulierte Kontur bzw. greifbare Plastizität der Dinge im Bild täuscht nur darüber hinweg, dass sie auch als geheimnisvolle Sehnsuchtsmetaphern verstanden werden dürfen und als eine Form, sich die Welt in ihren Erscheinungsformen und Zusammenhängen immer wieder neu malend zu erklären. Darin auch bemisst sich ihre ebenso zeitlose wie zeitbezogene, letztlich über den Dingen und Gegenständen stehende Gegenwärtigkeit. Was ihnen jeweils anhaftet, das ist eine eigentümlich unverrückbare Präsenz, ganz wie sie Möericke in dem oben erwähnten Gedicht „Auf eine Lampe“ beschrieb: „Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest Du, ...“ Wenn auch hier kein „Vergessnes Lustgemach“ der romantischen Art, so aber doch einen Raum der künstlerisch schönen Lust und Einbildungskraft!

Christiane Vielhaber



Katalog: Hendrik Krawen -- Lexicon Discothek Bon (Hrsg. Leopold-Hoesch-Museum Günther-Peill-Stiftung, 1996


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