Günther Beckers
Fünf Räume

"Welcher Naive hat angenommen, dass der Schimpanse einen Schimpansen zeichnen würde oder eine Schimpansin?" (Henri Michaux)

Aus einem Gespräch zwischen Dr. Dorothea Eimert und Günther Beckers

Für Günther Beckers finden künstlerische Fragestellungen ihre Lösungen nicht nur in einer einzigen Disziplin. Er durchspielt vielmehr die verschiedenen Themen interdisziplinär: in Zeichnung, Malerei, Plastik, Notation und Musik.

Die Ausstellung im Leopold-Hoesch-Museum zeigt fünf Themenbereiche: 1. Landschaftszeichnungen "Lousberg" 2. Schwarztuschen " Die Nacht des Landschaftszeichners" 3. Leinölskizzen "Symbiosen" 4. Michaux-Variationen "Passanten" 5. Imaginäre Portraits "Labyrinth"

Den fünf Themenbereichen ist jeweils ein Ausstellungsraum zugeordnet, entsprechend den fünf unterschiedlichen Entstehungsorten. Ein Gespräch, das Günther Beckers und Dorothea Eimert am 14. September 1989 geführt haben, gibt einen Einblick in das technisch fundierte und geistig untermauerte Schaffen des Künstlers.

1. Landschaftszeichnungen "Lousberg" Der in Aachen lebende Künstler zeichnet täglich auf dem nahe gelegenen Lousberg zu unterschiedlichen Tageszeiten.

EIMERT: Herr Beckers, wie entsteht ein Gemälde oder eine Zeichnung? Sind Komposition, Thematik und Technik im voraus geplant?

BECKERS: Das ergibt sich. ...außer, wenn Sie draußen in der Natur zeichnen. Dann ergibt es sich erst recht.

EIMERT: Zeichen Sie nicht die Natur?

BECKERS: Nein, die Natur begegnet meiner Intuition.

EIMERT: Sie zeichnen doch den Baum oder die Kühe oder die Landschaft? Sie zeichnen doch eine momentane Impression?

BECKERS: Ich zeichne analog zu einer Impression. Wenn ich einen Baum zeichne, enthält das Bild auch akustische Momente, das Rauschen der Blätter, die Bewegungen des Baumes. Der Moment, die Zeit, spielen eine große Rolle. Solch einen Prozess kann man in der Zeichnung aufgreifen - und das meine ich mit analog zeichnen - mit analog zur Natur zeichnen.

EIMERT: Die Futuristen, die die Bewegung und die Zeit in zweidimensionalen, an sich statischen Bildern darzustellen versuchten, stellten das zeitliche Nacheinander als z.B. phasenhaft zeitliches Nebeneinander dar. Wie lösen Sie dieses bildnerische Problem, die vierte Dimension, die Zeit, die Zweidimensionalität einzubeziehen?

BECKERS: Der traditionelle Zeichner beschäftigt sich mit Weiß-Räumen. Ein Blatt Papier ist zunächst ein völliger Leer-Raum. Das einzig wichtige ist nur der Strich, der das Blatt in mehrere Weiß-Räume gliedert. Eine gute Zeichnung zeichnet sich dadurch aus, dass die Weiß-Räume stimmen und zueinander stimmen. Man hat ja nichts anderes als den Bleistiftstrich und das, was der Strich als Form angibt. Er umgibt die Weiß-Räume. Mich interessieren die Weiß-Flächen und die Formen und ihre Korrespondenzen.

EIMERT: Sie zeichnen mit Bleistift. Sie meinen, dass das Zueinander von größeren und kleineren Weiß-Flächen und das differenzierte Grau oder Schwarz von mehr oder weniger Bleistift eine zart gestufte Farbigkeit erzeugen, ohne dass Sie Schattierungen vorgenommen haben? Man sieht einfach eine andere Weiß-Farbe?

BECKERS: Ja, Weiß-Räume können durchaus farbig sein - bei richtigem Hinsehen. Wichtig ist der Strich. Und das ist es, was mich an der Landschaftszeichnung im Moment so sehr interessiert, nämlich die unendliche Variabilität des Striches. Er hat eine ungeheure Qualität, von breit zu dünn, von zart grau bis tief schwarz, von hart bis zart aufgesetzt usw.

EIMERT: Der Strich selbst ist ein zeitliches Moment, weil er in der Zeit entsteht; jedoch nach Beendigung der Zeichnung stellt sich das Nacheinander der Strichführung als Gleichzeitigkeit dar. Wie verdeutlichen Sie dieses Nacheinander?

BECKERS: Variierter Druck des Striches ist das zeitliche Moment. Sein Rhythmus kann akustische Erlebnisse wiedergeben. Lautstärke z.B. setze ich um, indem ich auf den Bleistift mehr oder weniger Druck ausübe.

EIMERT: Das kann man in der Originalzeichnung ablesen. Denn vervielfältigen Sie eine dieser Zeichnung im Druckverfahren, ergibt sich lediglich eine gedruckte Fläche, die oben aufliegt. Breit und schmal ist erkennbar, nicht aber die Intensität der Bleistiftspur. Die Qualität der Spur als Handlung geht verloren.

BECKERS: Ja. Wenn man die Originalzeichnung im Querschnitt sehen würde, hätte man die Dimension der Höhe, der Tiefe, der Breite und das zeitliche Moment. Bei dieser Art zu zeichnen, wird der Strich als solcher wichtig - und hier ist die Verbindung zur Schrift.

EIMERT: Zeichnung ist eigentlich Schrift - auch in Bezug auf Raum und Zeit. - Sie zeichnen also auf dem Lousberg einen Baum. Sie sagten, Sie zeichnen analog dazu, das heißt, Sie zeichnen die Bewegung des Baumes, seine Geräusche, sein Wesen. Das hat etwas mit Pantheismus zu tun, etwas mit dem Einfühlen in die Seele des Baumes; sind Sie sich der Geschichte dieser Haltung bewusst?

BECKERS: Das ist eine alte asiatische Geschichte. - Die Stärke des Striches gibt auch die Stimmung wieder. Die Stimmung morgens ist manchmal sanfter als abends um 10. Das Licht verändert alles. Alle Zeiten ergeben andere Lösungen. - Eine Umsetzung dieser Landschaftszeichnungen ist die mit Tusche und Rohrfeder - und hier ist die Nähe zur Schrift sehr deutlich.

2. Schwarztuschen EIMERT: "Die Nacht des Landschaftszeichners" ist ein sehr poetischer Titel. Bedeutet er, dass Sie die Erinnerung an den Lousberg in die Schwarztuschen umsetzen?

BECKERS: Die Figur des Landschaftszeichners ist in die gegenständlich nicht differenzierte, dunkle Landschaft gesetzt.

EIMERT: Handelt es sich hier um Selbstportraits?

BECKERS: Oder um Erinnerungen an Personen, die mich begleiteten.

EIMERT: Bei diesen Schwarztuschen ist die Figur stets mit Kreide als Zeichnung auf den wässrig erscheinenden aufgesetzt. Das ergibt einen starken Kontrast zwischen dem stofflich körnigen …lkreidestrich, der die Figur umschreibt, und zwischen der glatten, wässrigen Tusche bzw. Tinte des Hintergrundes. So steht samtigmatte Stofflichkeit neben stumpfer Tonigkeit. Die Schwarztuschen haben eine unheimliche Tiefendimension.

BECKERS: Die …lkreide ist wichtig für die Oberfläche. …lkreide kommt nach vorne. Die Schwarztuschen sind Ergebnis eines langen Arbeitsprozesses. Viele Schichten lagen übereinander. Kreidezeichnungen tusche ist oft mehrmals weg usw.

EIMERT: Die Skizzen machen den Eindruck, als seien sie sehr schnell hingesetzt.

Das Malen selbst geht teilweise schnell, aber die vielen Schichten übereinander sind das Interessante. Wichtig für mich ist, die Spontaneität des Striches beizubehalten, die Komposition jedoch zu beruhigen. Teilweise nehme ich als Ausgangsmaterial auch Fotokopien meiner Arbeiten.

EIMERT: So erhalten Ihre Arbeiten ein geschichtliches Moment, denn die Fotokopien sind bereits Träger von Ideen, Träger von Geschichtlichkeit - ähnlich dem Recycling in der Papier-Kunst.

BECKERS: Seit 1970 arbeite ich mit Fotokopien meiner Zeichnungen. Eine schlechte Zeichnung kopiere ich und arbeite sie in der Fotokopie weiter. Auch die unentschiedenen Zeichnungen kopiere ich. Ich arbeite sie als Fotokopie und im Original weiter. Ich treibe jede soweit, bis sie gut ist. Nur die guten Zeichnungen bleiben stehen. Alles andere vernichte ich.

EIMERT: Mir fällt auf, dass die Fotokopien der Schwarztuschen eine unheimliche Tiefe haben.

BECKERS: Durch die Fotokopie werden die weißen Flächen deutlicher hervorgehoben. Die Fotokopie verselbstständigt das Licht total. Das Licht, das in den farbigen …lkreiden noch farbig angelegt ist, wird in der Fotokopie wieder ganz pur zurückgeführt.

3. Leinölskizzen "Symbiosen" EIMERT: Herr Beckers, ich sehe hier Papierarbeiten von pergamentartiger Konsistenz, auf denen Strichzeichnungen wie plastisch hervorgehoben stehen. Auch auf dem fast gläsern wirkenden Hintergrund sind differenzierte Farbschichten und Pinselspuren deutlich sichtbar. Diese Papierarbeiten weichen sehr von dem ab, was man normalhin als Zeichnung bezeichnet.

BECKERS: Das sind meine Leinölskizzen. Ich bestreiche Papier mit Leinöl und zeichne dann darauf. Die Farbigkeit des Leinöls entsteht, wenn ich Pigmente hineingebe wie z.B. Rötelkreide. Auf dem so gestalteten, noch nassen Hintergrund setze ich Striche. Wie dick oder wie präzis diese Spur ist, hängt vom Stift ab, den ich benutze.

EIMERT: Manche Leinölskizzen sehen aus wie gedruckt, andere lassen eine Leinenstruktur erkennen, wieder andere wirken gläsern. Wie kommt das?

BECKERS: Das hängt von der Art des Papiers ab, das ich benutze. Alle Papiere reagieren auf Leinöl unterschiedlich. Chinesisches Reispapier wird wie Pergamentpapier, normales Schreibmaschinenpapier wie eine Haut oder eine Trommel. Auf gestrichenen, geleimten Papieren bleibt das Leinöl stehen. Jede Kreide, jeder Bleistift sackt hier sofort in das Leinöl ein. Der Strich trocknet erst viel später ab. Wenn ich die Zeichnung ändern möchte, kann ich sie einfach wieder wegnehmen. Dies ist ein rein malerischer Prozeß. So stellen die Leinölskizzen für mich auch ein Verbindungsglied dar zwischen Zeichnung und Malerei.

4. Michaux-Variationen "Passanten" EIMERT: Bei Ihren Leinölskizzen, die Sie in Gedanken an die Kopfserie des Malers Michaux malten, wird die Nähe zu ihrer Malerei sehr deutlich, schon allein deswegen, weil das Thema des Portraits auch hier behandelt wird.

BECKERS: Bei den Leinöl-Portraits habe ich eine Besonderheit entdeckt. Ich kann nämlich durchsichtige Köpfe malen, die man von der Vorderseite und der Rückseite des Papiers betrachten kann. Wenn ich das Blatt rumdrehe, habe ich sofort die Spiegelung. - Das hat folgende Ursache. Chinesisches Papier beispielsweise saugt das Leinöl sofort auf. Das Papier wird durchsichtig. Ich arbeite also im Papier selbst und mit dem Papier. Die Nähe zu meiner Malerei würde z.B. sofort augenfällig, würde man ein 1987 von mir gemaltes Bild "Der Erlösungskopf" mit den "Michaux-Variationen" kombinieren.

5. Imaginäre Portraits - "Labyrinth" EIMERT: Sie haben eine 52teilige Serie imaginärer Portraits gemalt. Ich finde sie sehr ungewöhnlich, aber auch mutig, dieses alte Thema heute, da wir viele Möglichkeiten der portraitartigen Erfassung einer Person haben, als Thema einer ganzen Gemälde-Serie zu wählen.

BECKERS: Es war für mich spannend, den Kopf über seine Vieldeutigkeit zu finden und gleichzeitig innerhalb der ganzen Serie, die Malerei selbst durchzuspielen, als wandelbares Prinzip zu nehmen.

EIMERT: Mir fällt auf, dass allen Köpfen keine Attribute beigegeben sind, sondern dass die Farb-Hintergründe sehr unterschiedlich gestaltet sind. Manchmal hebt dieser den Kopf als plastisches Element - gleichsam wie ausgeschnitten - hervor. Bei einem anderen Bild ist der Kopf eingebettet in einen farblich lebendigen Hintergrund, so dass Kopf und Hintergrund in Korrespondenz stehen. Der Hintergrund erhält bei fast allen Bildern seine eigene stoffliche Qualität. Daraus entwickelt sich eine starke Dynamik zwischen Kopf und Hintergrund.

BECKERS: Der Umraum um eine Figur enthält wichtige Dinge, entweder gestaltete ich ihn atmosphärisch oder leer. Das ergibt sich meist, wenn ich mich frage, welchen Eindruck der Kopf auf mich macht. Das hat etwas mit Hören zu tun. Farbe selbst hat etwas von Zustand.

EIMERT: Diese €ußerung von Ihnen erweckt den Eindruck, als handele es sich bei dieser Portraitserie überhaupt nicht um fiktive Portraits, sondern um tatsächliche.

BECKERS: Köpfen begegnet man täglich. Diese Köpfe sind für mich schon Erinnerung an etwas. Der doppeldeutige Untertitel "Labyrinth" weist in diese Richtung. "Labyrinth" meint zum einen eine Aachener Kneipe, meint aber auch das tatsächliche psychische Labyrinth zwischenmenschlicher Beziehungen. Der Kopf entwickelt sich jeweils aus der Ei-Form und nimmt eher unbewusst Gestalt von der Person an, die mich während der Zeit der Bildfindung beschäftigt. Dennoch ist die Bezeichnung "imaginär" von Wichtigkeit, weil die Köpfe aus dem Prozeß heraus entstanden und nicht als tatsächliche Portraits gemeint sind.

EIMERT: Bei manchen Köpfen entdecke ich ein verwirrendes Spiel mehrerer Ansichten. Mir scheint nicht klar zu sein, ob ich ein Viertelportrait, eines en face oder ein Halbportrait sehe.

BECKERS: Innerhalb fast aller Köpfe finden sich mehrere Ansichten des Kopfes, verschiedene Bewegungen innerhalb einer Figur. Der Kopf als solcher hat in sich mehrere plausible Haltungen. Ich male eine Abfolge von möglichen Haltungen.

EIMERT: Hier erscheint wieder das zeitliche Moment, das Sie nun in der Malerei abwickeln. Das Phänomen der Zeit scheint Sie sehr zu beschäftigen.

BECKERS: Das ist ein musikalisches Phänomen.

EIMERT: Wenn man diese Vielansichtigkeit der Köpfe konsequent zu Ende denkt, müssten Sie doch an sich wieder zur Plastik gelangen - so wie dies schon einmal während Ihres Aufenthaltes in Finnland geschah.

BECKERS: Da bin ich gerade bei.

Günther Beckers - Fünf Räume, (Hrsg. Leopold-Hoesch-Museum und Günther-Peill-Stiftung, 1989)


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