Manfred Pernice

Seit der Teilnahme an der documenta Kassel 2001 und der Biennale Venedig im selben Jahr gehört Manfred Pernice zu den „Leuchttürmen“ der mittleren Künstlergeneration. Die Erfahrung von Unzulänglichkeit, überhaupt irgend etwas in seiner vollkommenen Komplexität erfassen zu können oder auch nur im geringsten präzise sein zu können, diese Ohnmacht, die sich einstellt, das Scheitern und die Einsicht von der Zwecklosigkeit allen Tuns führten den Künstler Manfred Pernice zu seiner künstlerischen Systemerfassung von Verdosung und Verpeilung.

Verdosung nennt Manfred Pernice die Konzentration auf etwas Bestimmtes unter Ausschluß der unendlichen, von Menschen nicht faßbaren Komplexität des Da-seienden. Es ist einerseits ein Separieren von Informationen, andererseits ein Bewahren, Konzentrieren und Fokussieren ganz bestimmter Informationen, die dem Agierenden aufhebenswert erscheinen. Die Ausschnitte, die Konzentrationen an und von bestimmten Orten punktet Manfred Pernice und verbindet sie. Er verpeilt sie untereinander, stellt ein Netzwerk bestimmter Verdosungen untereinander her. Manfred Pernice nennt dies Peilungen.

Das Gedächtnis des Ortes, das Ortsgedächtnis ist Thema der neueren Wissenschaftsphilosophie. Ein Ort, ein Gebäude, ein Material speichert alle Informationen, die irgendwann gewesen sind, auch die aktuellen - auf immer. Diese Informationen sind stets latent im Feinstofflichen vorhanden. Sie wirken und können erfahren werden, wenn man, wie Manfred Pernice, die Gabe hat, sie zu orten. Manfred Pernice spricht von der Unzulänglichkeit, von der Ohnmacht, die Komplexität feinstofflicher Informationen zu erfassen. Seine Lösung ist die Separierung, das Erstellen von Bezugssystemen, von Vernetzungen durch Peilung.

Markante Punkte/Orte in der Umgebung von Düren und in der Stadt Düren sind Manfred Pernice begegnet. Zudem weisen einige dieser Orte auf herausragende Persönlichkeiten der Kunst: auf den Bildhauer Ulrich Rückriem und den Schriftsteller Heinrich Böll. Auf verschiedene Weise sind sie im Kreisgebiet von Düren präsent. Mit Kartenmaterial ausgestattet und unter ortskundiger Führung fand Manfred Pernice die für seine hiesige Arbeit wesentlichen Orte. Dr. Kerstin Stremmel begleitete den Künstler und sein Tun, kuratierte seine sich daraus entwickelnde Ausstellung im Leopold-Hoesch-Museum und betreute in bekannt qualifizierter Weise die vorliegende Publikation. Ihr spreche ich einen ganz herzlichen Dank aus.

Dorothea Eimert

Wischi-Waschi-Weltfindung

Eine Positionierung zu Manfred Pernices Peilanlagen

Als nautisches Handwerk hat das Peilen an sich die existenziell wichtige Funktion der Bestimmung des eigenen Standpunktes (d. h. Schwimmpunktes). Eine qualitative Untersuchung oder gar Beurteilung der angepeilten Punkte ist dabei irrelevant. Wichtig ist nur, dass die Objekte markant und immobil auf einer gültigen Karte erfasst und somit gegenlesbar sind.

Eine Pernice'sche Peilung hingegen ist ein Anvisieren der Umgebung. Eine Peilanlage ist bei ihm ein irgendwie bestimmter Ort, ein Punkt auf der Karte, durch den Linien der Aufmerksamkeit gezogen werden. Trifft so eine Linie auf ein Objekt, wird dieses zum Gegenstand der Arbeit und somit untersucht. Die bei einer Peilung getroffenen Objekte (Komplexe) beginnen nun – in der thematischen Auseinandersetzung mit ihnen – zum Teil der Ausstellung und damit des Kunstwerkes zu werden. Das Treffen eines Komplexes steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Treffen einer künstlerischen Entscheidung, ja es ersetzt diese sogar. Eine Peilapparatur fungiert also bei Manfred Pernice zuerst (vordergründig?) einmal als Instrument der Themenfindung unter Ausschluss der eigenen Erwartungshaltung, des eigenen Begehrens. Das Ganze ist also eine scheinbar einfach gestrickte Methode, wirkungsvoll auf lyrische Art (wie bei Reimpaaren) Beziehungen zwischen Dingen herzustellen, die sich womöglich nirgends sonst tangieren, als dort, wo sie der Pernice'sche Peilstrahl trifft. Bisweilen zeigen sich diese Peilapparaturen als gnadenlose Höllenmaschinen, einer linear gesteuerten Indifferenz. Sie machen das Lineal zu einem Instrument der Gleichsetzung, der Ungenauigkeit und des schrecklichen Zufalls. Die Schrecklichkeit solcher Zufälligkeiten äußert sich hauptsächlich in einer abgründigen Langeweile, die offensichtlich in der Fadesse der gepeilten Normalität selbst gründet. Ab und zu entstehen assoziative Zusammenhänge, die dann aber, wenn sie zutreffend sind, fatalerweise kalkuliert wirken, was sie, der Glaubwürdigkeit der künstlerischen Methode wegen, ja nicht sein wollen. So wird der Glücksfall (etwas Herausragendes, ein Extrem, Heiß-Kalt) bei Pernices Arbeit zu einer Gefahr, die Mechanik des Peilapparates bisweilen zu einer Zwickmühle.

Für die erpeilten Orte, d.h. ihre thematischen Komplexe (Dosen?), werden nun zum Zwecke der Ausstellung Repräsentanten gesucht. Man kann sie ja nur in den seltensten Fällen als Ganzes ausstellen (zu groß, zu immateriell etc.). Oft handelt es sich dabei um vor Ort Gefundenes und um Material, das in der Auseinandersetzung mit der Materie entstanden ist: Skizzen, Modelle, Objekte, Plastiken, Skulpturen. Die Verbindung zur Thematik ist dabei meist wild assoziativ und knochentrocken-poetisch. Dennoch bestimmt den Aufbau einer Ausstellung eine konzentrierte (zwanghafte?) Disziplin.

„Formfindung“ bei Pernice – da trifft die Faust ein bisschen neben das Auge – also das eigentliche Ausstellbarmachen der erpeilten, erfassten und erwogenen Objekte könnte man vielleicht mit folgenden Worten umreißen: nicht zu Ende bringen, vielleicht sogar noch nicht einmal richtig beginnen, andeuten, anreißen, andenken. Noch nicht einmal dilettantisch sind die manchmal ärgerlichen, manchmal halb lustigen, amorphen, diffusen Dinger, die dann so überlegt blöd rum stehen. Einmal von dem Mechanismus erfasst, müssen diese Komplexe plötzlich miteinander – ja was eigentlich? – gebastelt, verglichen und ausgestellt werden, was ihnen sichtlich nicht behagt. Und weil das große Thema beim Peilen nun mal die Bestimmung des eigenen Standpunkts ist, und dieser unbedingt notwendig für die Orientierung in schwierigem Gelände und überhaupt in der Welt ist, kann man dies, wie ich denke, auch auf die Arbeit von Manfred Pernice übertragen. Das könnte tatsächlich seine Anstrengung sein: Die Standpunktlosigkeit mit Inhalt füllen, die Welt, das Universum auf neue Art kartographieren, das Kartographieren neu definieren, weil alle inhaltlichen Bezüge abhanden gekommen sind. Freilich ist die bei ihm herrschende Grundstimmung der Unbestimmtheit und Diffusität für uns ziemlich ungewohnt und irritierend, zumal sie der „Soundtrack“ zum Versuch ist, sich die Welt neu anzueignen.

Giordano Bruno wurde verbrannt, weil er ein Universum erkannte, in dem jeder Punkt gleichzeitig äußerster Rand aber auch Zentrum (Peilanlage?) sein kann. Heute kann man keine Weltbilder mehr in Frage stellen, nichts mehr auf den Kopf stellen und sich für nichts mehr opfern. Keine Zeit für Helden. Die Kunst kann keine Wirklichkeitsvorstellungen mehr zum Platzen bringen, sie sind alle schon lange geplatzt. Wir sind durchs Netz der Realitätskonstruktionen durchgefallen. Was, außer dem Marktwert, ist denn noch interessant?

Pernice ist daher in seiner Arbeitsweise radikal skeptisch. Indem er die Themenfindung methodisiert, die Formfindung verweigert, entzieht er sich seinen künstlerischen Hausaufgaben, enttäuscht, provoziert dort, wo wir es von einem Künstler nicht erwartet hätten: im Lauen. Er schafft es heutzutage – und ohne heroische Geste –, bestimmte Vorstellungen und Erwartungen zu entlarven, das will was heißen. Sein Peilen ist ein scheinbar unentschlossenes Tasten aus Zweifel heraus in eine dekonstruierte Welt, ein desillusionierter Versuch, eine vage Art Ist-Zustand durch eine Notverankerung im Willkürlichen wiederzufinden. Ein „Sich-Positionieren-Zu“ ist das nicht, eher ein Modell davon, welches vielleicht so beschissen aussehen könnte, wie eines seiner Architekturmodelle. Oder auch als Variante: „Positionierung geglückt, wir sind irgendwo.“ Das ist vielleicht nicht befriedigend, wir hatten ja schon mal vermeintlich mehr gewusst, aber es ist REAL. Und jetzt, muss ich doch sagen, hat's geknallt. Ein Realismus! Könnte es die ganze Zeit über darum gehen, einen zeitgemäßen Realismus zu erfinden?

Und das mit einer Maschine, mit einer Methode, deren Aufgabe schon immer die gleiche war: Das Suchen und Finden von Vergleichbarkeiten. Stonehenge und die Pyramiden sind schon ganz schön alte Peilanlagen, die uns zeigen, dass der Wunsch, sich in einer unverständlichen Welt seiner Selbst zu vergewissern, universal menschlich ist und war. Existentielle künstlerische Orientierungsmethoden gibt es viele, z.B. die assoziative „Wahrheitsfindung“ durch die prophetisch-poetischen Reim-Spinnereien des Quirinius Kuhlmann („Kühltheorie“), die ihn auf den Scheiterhaufen gebracht haben, utopistische, technisch-magische Zufalls- und Wirklichkeitsexperimente von William S. Burroughs (the electronic revolution). Und so weiter, aufzählen ist so mühsam geworden. Das Peilgerät ist ein mystischer Apparat, gänzlich frei von Metaphysik und total abgeklärt. Manfred Pernice deutet mit seiner unverblümten Unentschiedenheit eine neue Haltung zur Welt, wie sie wirklich ist, an: unsicher.

Klaus Gölz





Katalog: Manfred Pernice - Rückriem-Böll-Peilung Andere & (Hrsg. Leopold-Hoesch-Museum und Günther-Peill-Stiftung, 2008)


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