Matthias Kunkler
Arbeiten 1989/90

Zur Bildgestalt von Matthias Kunkler

Malen kann elementare, spontane Äußerung durch Farben sein. Lange bevor er daran denkt, ein Bild zu machen, malt Matthias Kunkler bereits, bedeckt Bögen von Zeichenkarton, Transparentpapier, schwerem Tiefdruckbütten oder faserigem Japanpapier mit Farben oder mit einer Farbe, die möglicherweise sodann mit Farbpunkten übersät wird; er lässt Papiere von kurzen Farbstrichen überwuchern, von Farbbändern überziehen; über aquarellierten Farbgründen zeichnet er mit Blei- oder Buntstift Linienstrudel, die zwischen pastos gesetzten kleinen Inseln von Farbtupfern wirbeln. Alle diese Farb- und Formkonstellationen bilden den Fundus, aus dem Kunkler seine Bilder entstehen lässt, indem er ganze farbbedeckte Papiere oder Teile davon nebeneinander, partienweise übereinander lagert und zusammenklebt. Das Zusammengefügte bildet eine neue, buchstäblich vielschichtige Einheit, die durch erneute malerische Intervention, durch Zusätze vollendet wird. Nach einem inneren Gesetz des Wachstums entwickelt sich aus den vereinten Farb-Formkonstellationen die äußere Gestalt des Bildes von unverwechselbarer Individualität. Eine solche Bildgestalt ist kategorial vom Tafelbild verschieden. Beim Tafelbild (mit der zumeist standardisierten rechteckigen Form) ist die Form des Bildfeldes jedenfalls der Malerei vorausgesetzt. Das Bildfeld teilt von seinem Formenpotential (Mittellinien, Diagonalen, oben/unten, links/rechts) einiges der Darstellung mit, die der Maler in das betreffende Feld projiziert; Dagobert Frey sprach von der „prospektiven Bildpotenz“. „Im Falle des Tafelbildes bestimmt die äußere Form die innere Struktur“ (Max Imdahl); im Falle von Kunklers Bildgestalt bestimmt die innere Struktur die äußere Form.

Diese Bildgestalt kann als vollendet für sich bestehen bleiben. Sie kann aber, wenn Kunkler es will, auch weiter wachsen, sich beispielsweise nach links und rechts bandförmig strecken- „bandförmig“ war das Thema der Ausstellung, die der Maler zusammen mit Andreas Kuhlmann im August 1990 in der Kunsthalle Recklinghausen ausgerichtet hat. Sie kann sich möglicherweise allseits ausbreiten zu monumentalen Dimensionen. Nach ihrer Struktur kann sie sogar ausufern, über eine Wand beispielsweise hinweg über angrenzende Wände, Boden, Decke wuchern, bis die Bildgestalt den Raum total umgrenzt, in sich einschließt. Kunkler hat solche totale Bildgestalten bereits 1984 in den Räumen der Gruppe Videre in Köln installiert: “Raumveränderung“, und 1985 in der alten Villa des Städtischen Museums in Gelsenkirchen-Buer. Dabei bietet weder die Bezeichnung „Bildraum in seiner ursprünglichen Bedeutung“ noch das Wort „Raumbild“ einen adäquaten Terminus zur Benennung des Phänomens des vom Bild umschlossenen Raumes, denn der Begriff Bildraum bezeichnet in der bildlichen Darstellung illusionistisch erscheinenden oder nicht illusionistisch wahrnehmbaren Raum, während das Wort Raumbild das Abbild eines Raumes benennen muss analog den Begriffen Historienbild, Genrebild, Landschaftsbild, Marienbild, die Historien, Genreszenen, Landschaften beziehungsweise Maria darstellen.

Ob eine von Kunkler geschaffene Bildgestalt klein, monumental oder total ist, in jedem Fall handelt es sich um eine Malerei, die bewusst oder unbewusst die Elemente der Bildgestalt kompositionell in Relationen zueinander bringt, sie gliedert und rhythmisiert. Im Gegliederten wird selbst bei extremen, bandförmigen Bildgestalten die Einheit gewahrt; ein Bildband kann so die Struktur eines Triptychons, Pentiptychons, Polyptychons annehmen. Auch die Raum umschließenden totalen Bildgestalten haben in sich Gliederung aufgewiesen und dadurch zugleich den Raum entsprechend beeinflusst. Solches Gliedern ist allerdings fern von Starrheit und jeder Pedanterie; vielmehr sichert Kunklers Vorgehensweise bei der Gestaltfindung dem Werk durchaus „den Charakter des Experimentellen“ und lässt „das Prinzip Zufall eine Rolle“ spielen (Ferdinand Ullrich).

Das Prinzip Zufall hat auch Einfluss auf die Farben, die zunächst mit der Schichtung der verschiedenen Papiere und Kartons in der Bildgestalt zusammenkommen. Die Qualität der Farben hängt einerseits von den Farbmaterien (Acrylfarben, Dispersionsfarben, Aquarellfarben, Kreiden, Farbstifte) ab und andererseits davon, wie Überlagerung, Durchdringung und Transparenz sie benachbarn. In der Mikrostruktur ist derart ein dichtes Neben- und Übereinander zahlloser kleiner Farbformen gegeben, das ein Vibrieren, Pulsieren, Fluktuieren bedingt, das allmählich zunehmen mag und plötzlich abbrechen kann. Insbesondere die – im Arbeitsprozess – zuletzt hinzugefügten Farbspuren tragen wesentlich dazu bei, die vorab gemalten Farb-Formkonstellationen zu integrieren, eine Makrostruktur entstehen zu lassen mit größeren Farbplänen, die einander durchdringen können. Kunklers derzeitiges Farbspektrum basiert auf den Grundfarben Gelb-Rot-Blau und umfasst auch deren primäre Mischfarben; getrübte Farben bleiben außen vor. Spätestens seit Ittens Farbkontrastlehre ist bekannt, dass diese Buntfarben eine ausgesprochen vitale Ausstrahlung haben. Kunklers Farben evozieren, wie es die Malerei hierzulande selten genug sehen lässt, so etwas wie - ich will ganz zurückhaltend formulieren - Lebensfreude; die Farbigkeit ist wie die Bildgestalt allerdings durchaus schichtig, auch wohl hintergründig. Das Lebensfreudige, Heitere erscheint so als Ausdruck einer geglückten Gratwanderung.

Kunklers Bildgestalten haben - im Sinne des Wortes - einen materiellen Körper, jeweils als Schichten farbbedeckter und transparenter Papiere, Kartons, Pappen. Diese sind keineswegs plan, sondern gelegentlich von Knittern gefurcht, durch Farb- und Klebstoff gewellt; nicht gänzlich fixierte Ränder von Papieren heben sich ab und werfen ebenso Schatten wie die Furchen und Wellen in der Oberfläche. Die Bildgestalten haben also nicht nur optische, sondern auch haptische Qualitäten. Es entspricht völlig der Struktur der Bildgestalt, dass sie nicht allein durch ihren bewegten Kontur in die umgebende Fläche (des Passepartouts, der Wand) ausgreift und sich mit dieser verzahnt, sondern dass sie auch durch ein zumeist subtiles Relief mit dem umgebenen Raum kommuniziert.

Dies wird dann intensiviert, wenn Kunkler zwischen die Papierschichten beispielsweise einen halben Keilrahmen, einen hölzernen Winkel also, klebt, oder wenn er Papiere rollt und gerollt auf die Oberfläche setzt. In der Struktur der Kunklerschen Bildgestalt ist angelegt, dass sich eine solche Rolle verselbständigen kann, wächst, zur Säule wird, zum Kegel mutiert, frei im Raum steht.

Gert Kreytenberg



Katalog: Matthias Kunkler - Arbeiten 1989/90 (Hrsg. Leopold-Hoesch-Museum und Günther-Peill-Stiftung, 1991)


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