Kora Jünger
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Über die Arbeit „World's Saddest Songs“ von Kora Jünger

Der böse Blick

In einem Berliner Heimatmuseum wird auf einem weißen Sockel ein Plastikeimer präsentiert, in dem eine Menge überlanger hellroter Strohhalme stecken. Das Objekt der Zurschaustellung steht für eine eigentlich mit Abscheu betrachtete massenkulturelle Praxis: Deutsche Urlauber trinken auf der spanischen Insel Mallorca am Strand El Arenal so lange gemeinsam Sangria mit Strohhalmen aus Eimern, bis sie nicht mehr wissen, wie sie heißen und woher sie kommen. Und das ist dann auch das, worum es geht: Nicht mehr zu wissen, wie man heißt und woher man kommt. Sich seiner zu fad gewordenen Identität für ein paar Stunden zu entledigen, um sie dann unter Kopfschmerzen am nächsten Morgen nach dem Aufwachen mühsam wieder zusammen zu sammeln, wie die Haufen der im Hotelzimmer verstreuten Kleider. Diese sehr profan ausgeübte Praxis der Ek-Stasis, des Aus-sich-selbst-heraus-Tretens, der Selbstauflösung, des Rausches ist extrem geläufig und wahrscheinlich gerade deswegen nicht besonders hoch angesehen. Ein Freund von mir bezeichnet sie ohne Umschweife als "sich aus der Welt rammen". Mit dieser Formulierung geht eine Drastik einher, die auch eine Entwertung in sich birgt. Vor das innere Auge geraten Szenarien menschlicher Körper in Zuständen, außer Fassung geraten, in einem Übergang befindlich. Körper, die übergehen in einen namenlosen Zustand jenseits von Sprache und Selbst-Bewusstsein. Das sind Körper, die lallen, taumeln, grabschen, geifern, fallen, schnarchen, rülpsen, und so weiter.

Als handele es sich dabei um eine "Kultur der Unkultur" werden derartige sozialer Phänomene gerne mit Verrohungs- oder Werteverfalls-Argumentationssträngen in Zusammenhang gebracht. Innerhalb (historischer) romantischer Vorstellungswelten jedoch erhält die - eleganter als "Ausschweifung" - gelabelte Kultivierung des Rausches eine ideale Qualität. Der Zustand der Besinnungslosigkeit entspricht hier vielmehr einem Zustand der Beseelung, der Erweiterung, wenn nicht gar Transzendenz eines idealen Selbst. Das "Ich" wird nicht weniger, sondern wächst über sich selbst hinaus - seine körperlichen wie geistigen Grenzen überschreitend. Vor diesem Hintergrund existiert ein positiver Begriff von Transgression, der so etwas wie einen Moment des Offenen und Möglichen enthält.

Die Personen, Figuren, Subjekte, Körper oder Wesen, die in den Zeichnungen auftreten, befinden sich in solcherart transgressiven Zuständen. Ihre Transgression scheint aber ohne Perspektive. Ohne die Option auf einen utopisch verrückenden Moment, der sie von sich selbst befreien könnte oder sie über sich selbst hinauswachsen ließe. Ihre Überschreitungen verenden im Diesseits. Oder reißen sie sogar noch weiter rein in die traurige Gegenwart des eigenen Körpers. Die Vorstellung eines unabhängigen und souveränen modernen Individuums scheint hier, mit dem Kopf in der Kloschüssel oder käferartig auf dem Boden liegend und alle Viere von sich streckend, einer Enttäuschung Platz gemacht zu haben: Unbestimmt zwischen Subjekt und Objekt gehen die gezeichneten Gestalten ins Formlose über. Es sind sich selbst verzehrende Wesen, die nicht um sich und ihre Selbstverzehrung wissen. Das ist das, was an ihnen das in sich selbst Gefangene, das Kreatürliche ausmacht.

Diese modernen Wesen, denen man aufgrund ihrer casual Kleidung nicht ansieht, woher sie genau kommen oder was sie beruflich machen, scheinen sich über ihre Praktiken der Überschreitung einen Funken Rest-Autonomie aneignen zu wollen. Diese Autonomie läge demnach in der Verfügbarkeit über den eigenen Körper und seine Zustände. Und da ist bekanntermaßen alles möglich, was man mit einem Körper so machen kann: Sport, Tanz, Sex, Drogen und so weiter. Vielleicht bildet das die Verschränkung, die in den Zeichnungen immer wieder zustande kommt: In dem Moment, in dem diese Körper sich ganz sich selbst überlassen, überlassen sie sich dem Blick der Betrachter. Mehr oder weniger ausgeliefert wird diesen Körpern dabei zugesehen, wie ihr Versuch einer Selbstaneignung scheitert. Sie werden gezeigt in einem Moment, in dem sie nicht vorzeigbar sind, als dysfunktionale Repräsentanten ihrer Selbst. Der Moment des Abgebildet-Seins oder des Zur-Schau-gestellt-Werdens entspricht dann der Ohnmacht der Abgebildeten und zur Schau Gestellten. Und der Raum der Zeichnungen fällt zusammen mit der Unmöglichkeit eines herzustellenden autonomen Raumes.

Der Blick auf die Zeichnungen positioniert die Betrachter hinter eine schon gezogene Grenze. So zeigen die Zeichnungen etwas, zu dem man gerne Distanz halten möchte. Einerseits geht der Blick auf sie einher mit einer voyeuristischen Faszination, andererseits geht er aber auch zusammen mit der Beschämung über die Obszönität des eigenen Schauens und mit dem Versuch, sich davon wieder zu lösen. Eine bestimmte Tradition von Fotografie könnte diese Grenzziehung strategisch behaupten. Das ist eine Bildsprache, die sich über den Duktus des Zeigens und des Entblößens von dem Gezeigten und Entblößten schon längst distanziert hat. Ein bestimmtes Verständnis von Fotografie, das einen so genannten "schonungslosen Blick" für sich in Anspruch nimmt, ein Blick der "draufhält" und der dorthin hält, "wo es weh tut". Ein Blick, der in gewissem Sinne auch moralisierend eine Wahrhaftigkeit für sich in Anspruch nimmt, indem er zeigen möchte, wie es "wirklich" um „die Leute“ bestellt ist. Da das zur Schau Gestellte in den Zeichnungen jedoch schablonenartig nachgezeichnet oder stereotypisch vorskizziert wurde, kann es sich nicht derartig direkt zu so etwas wie Realität positionieren, sondern es erhält zudem die Verfasstheit einer Konstruktion. Bei manchen Verbiegungen der gezeigten Wesen ließe sich an akrobatische Körperformationen denken. Also an etwas extrem Artifizielles und Übersteigertes. Und das wäre dann die Frage, ob dieser Moment der Konstruktion die Option auf etwas Mögliches öffnete.



Katalog: Kora Jünger - world's saddest songs (Hrsg. Leopold-Hoesch-Museum und Günther-Peill-Stiftung, 2007)


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