Bertram Jesdinsky

Stipendiat der Günther-Peill-Stiftung 1989-1991

Tieferer Nonsens

Das Bestiarium von Bertram Jesdinsky

Eine Invasion phantastischer Tiergestalten zeigen die Werke von Bertram Jesdinsky. Die Urwelt hat von den Städten Besitz ergriffen. Mischwesen der seltsamsten Art bevölkern Straßen, Plätze, Kaufhäuser, Fabriken. Die technische Welt scheint von dieser Metamor- phose infiziert zu sein, nimmt ebenfalls monströse Züge an. Die Apparaturen sind zu Leben erwacht und entdecken ihre Triebe. Skurrilste Geschehnisse spielen sich ab. Die Verwandlung möchte man auf den ersten Blick eine Fabel der Moderne nennen, bis man die Brüchigkeit der Bilder erkennt. Die groteske Interaktion von Tier und Apparat hat sehr ambivalenten Charakter, aus Lustgewinn wird bald Peinigung. Das Pandämonium, das sich im Werk entfaltet, steht in einem erbitterten, sinnlosen Kampf. Scheinbar bunt, bilder- buchhaft, ja harmlos aufgebaut, fehlt diesem merkwürdigen Bilderkosmos in Wirklichkeit die Kohärenz. Der anarchistische Ursprungsimpuls führt zu absurdem Aktionismus, zu Wieder- holungszwang und Erstarrung. Die ständige Transformation und Metamorphose in Jesdinskys Werken ist in Wirklichkeit eine Parabel von der Unlesbarkeit, der Unver- ständlichkeit der Welt. Der Nonsens ist der tiefere Sinn.

Mit Graffitis ist Bertram Jesdinsky ab 1979 zuerst an die Öffentlichkeit getreten. Damit verkörperte der Neunzehnjährige ein weltweites Zeitgefühl. Zur Überwindung der intellektuellen Konzeptkunst, die dem täglichen Leben zu fern zu stehen schien, griff man auf Ausdrucksmittel der Subkultur in den Metropolen zurück. "High" and "low" verbanden sich provokativ im Kunstgeschehen. Von "wilden Bildern" sprach zum Beispiel ein Kunstforum-Themenheft von 1982: "Aufgrund ihrer Situationskomik sind Graffiti (...) kaum der Reproduktion verfügbar (...) In der standardisierten Dingwelt der Industriegesellschaft und angesichts ihrer Bauten (...) ist es gerade die Beschmutzung und Zerstörung, die den Dingen wie den Gebäuden das Minimum an Aura zurückgibt, das der Mensch braucht (...), darin liegt die konkrete Utopie der Graffiti." (Walter Grasskamp)

Durch Photographien ist eine Spraybildaktion auf Plakatwänden überliefert, die Jesdinsky und die Gruppe Anarchistische Gummizelle (AGZ) im Sommer 1980 inszenierten. Bereits im Vorjahr hatte der Plakatkünstler Manfred Spies die zwischen den Wahlkämpfen weiß aufgeklebten Flächen in ähnlicher Weise für kritische Anstöße genutzt. Die Wahlplakat-wände waren seinerzeit insbesondere als Blickfang für Autofahrer eingerichtet worden. Auch die Anarchistische Gummizelle bekundete mit anonym gehaltenen Parolen politisches Bewusstsein. Vor allem die Nähe zur Friedensbewegung wurde signalisiert. Daneben wurden phantasievolle Malereien gesetzt. Die Sprayaktion war gleichsam eine ungenehmigte Ausstellung im Freien mit der Bevölkerung als Publikum. Manchmal wurde auf eine konkrete örtliche Situation reagiert, etwa wenn Jesdinsky neben das Gebäude der Börse zwei am Boden sitzende gefesselte Spekulanten platzierte. Die Figurengruppe war einer benachbarten Röhrenplastik von Erich Hauser nachempfunden ("Interpretation eines Kunstwerks"). Den beiden gefesselten Börsianern entgingen zahlreiche durch die Luft fliegende Geldscheine. Neben derartigen skurrilen Szenen standen politische Spraybilder und -parolen, die sich vor allem mehrfach gegen die Aufrüstung durch Cruise-Missile- Raketen richteten. Anarchistische Töne wurden in der Verhöhnung der Macht des Geldes angeschlagen: "Hurra wir (k)leben", rief etwa ein Mann, dem eine Banknote als Flügel – und Fessel – angewachsen war. Anders als die zeitgleichen Kreidegraffitis eines Keith Haring in der New Yorker Subway, auf denen bestimmte schematische Figuren häufig wiedererschienen – der fliehende Mann, das kriechende Kind, der bellende Hund -, reagierten die Spraybilder von Jesdinsky und Gummizelle meist auf einen bestimmten aktuellen Inhalt. Parolen und Bilder standen dabei zueinander durchaus in antithetischer Spannung. Die Ernsthaftigkeit der Parolen wurde durch die Groteske der Bilder konterkariert. Die letzte und größte Graffiti-Aktion der Gruppe war 1984 die Bemalung der Kaimauer am Rhein unterhalt des Neubaus des Landtagsgebäudes. Große Tierfiguren tanzten, tranken, fuhren Boot. Die Dämonen, mit wetterfester weißer Ölfarbe in bewegten Umrissen gemalt, schienen sich der Baustelle bemächtigt zu haben.

Die Super-8-Filmproduktion der AGZ ab 1981 erschloss mit den Filmfesten und –festivals, den kommunalen und alternativen Kinos ein Publikum jenseits der Insiderkreise der Bilden- den Kunst. Neben Gruppenarbeiten ("Im Rhenushaus") standen individuelle Beiträge. In diesem alternativen Umfeld wurde die Gruppe populär und griff auf ein breites, multime- diales Repertoire subkultureller Darstellungsformen zurück. Insbesondere die Kommen- tierung der Filme aus dem Off und die sorgsam erprobten Zwischeneinlagen mit Musik und Performance unterliefen jede gewohnheitsmäßige Trennung nach Gattungen und Genres. In das Programm waren im Sinne der Verwischung der Lesbarkeit Distanzierungskapriolen eingebaut. In einer Selbstdarstellung der Gruppe wird dies so beschrieben: "Auf Festivals sind wir bekannt für unsere spontanen Auftritte. die oft komplexe Mischung verschiedener Ausdrucksformen macht eine trockene Beschreibung sehr schwierig. Das Publikum staunt über offensichtlichen Blödsinn, selten erlebte Unbedarftheit, technische Raiffinesse und Unergründbares".

Diese Mischung der Gattungen und die ständigen Handlungssprünge mit der Überlagerung der Darstellungsebenen haben Bertram Jesdinsky die Freiheit für seine späteren dissonanten Bildformen vermittelt. Überdies führte die Ausstattung von Film und Performance direkt weiter zu den späteren eigenen Objekten, Wellpappeskulpturen und –räumen. Auch die Montagetechnik der Super-8-Filme mit schnellen Schwenks, Schnitten, unterschiedlichen Kameraeinstellungen, ständigen Perspektivwechseln gewann später in den Gemälden weitere Bedeutung. Manches Bild war ein zusammengefasster Film.

Mit dem Schwarz-Weiß-Film "Im Rhenushaus"(720"), dem zweiten gemeinschaftlichen Film überhaupt, trat die Gruppe erfolgreich an die Öffentlichkeit. Wie Mitglieder eines geheimen Bundes agieren die drei Filmemacher, die zugleich ihre eigenen Protagonisten sind, mit hohen spitzen Hüten in leeren, verlassenen Räumen, Gängen und Dachboden. Das Rhenushaus, ein alter Kornspeicher, wurde zum Zeitpunkt der Entstehung des Films bereits abgerissen. Protest dagegen – wie er noch in einem Dokumentarfilm der 70er Jahre unumgänglich gewesen wäre – wurde nicht erhoben. Stattdessen entwickelte sich im Film eine geheimnisvolle, fast sakrale Stimmung, die auf ihre Weise dekuvriert. Wie drei Magier stellen sich die Künstler gegen die Zeit. Bertram Jesdinsky hat in folgenden eigenen Super-8-Filmen noch deutlicher die Trivialität des Alltags zelebriert, transformiert, animiert. Kaffeefilter werden in den Film "Der Sonntagsspaziergang" (230") zum Laufen gebracht. Eine Sammlung von Autobildern wird in dem folgenden Film "Autos rot gelb blau" farbig sortiert aus einem Schuhkarton unterm Bett hervorgeholt – Wunschfarbe scheint die Gegenstände zu beseelen. Auch später arbeitete der Künstler an Animationsfilmen, deren skurrile, komplizierte Handlung durch Pappskulpturen und Papiermalerei bewältigt werden sollte. Viele Film-Experimente aber – wie der Film "Schmusende Straßenbahnen" – blieben Skript.

Der Übergang von Graffiti und Super-8-Film zu den großformatigen Papier und Nesselbildern ab Mitte 82 war überraschend abrupt. Mit einer noch im nachhinein spürbaren Faszination entdeckte der Künstler ein neues Medium. Vorausgegangen war 1980 eine große Fassadenmalerei an einem vom Abbruch bedrohten Haus in Düsseldorf-Rath. Hier in der Theodorstraße malte der Künstler eine riesige Drachengestalt über die Außenwand. Das mythische Fabelwesen, das im späteren Werk bis hin zur letzten vollendeten Arbeit, dem "Basilsken", eine leitmotivische Rolle spielen sollte, war damit erstmals vor aller Augen präsent. Jesdinsky hat sich intensiv mit der natur- und kulturgeschichtlichen Überlieferung der Fabelwesen auseinandergesetzt. Eine wichtige Quellenschrift war ihm dabei das populärwissenschaftliche Buch "Drachen, Riesen, seltsame Tiere von gestern und heute" von Willy Ley. Hier konnte der Künstler zum Beispiel erfahren, dass die berühmten Drachenreliefs am Ischtartor in Babylon sagenhafte Mischgestalten sind. Sie haben mit Schuppen gepanzerte Körper, einen langen, schlanken, schuppenbedeckten Schwanz, einen Hals mit Schuppenkopf und zwei Hörnern sowie – am seltsamsten – Vorderfüße von einem katzenartigen Tier, Hinterfüße von einem Vogel. Das System der Natur, die zoologische Entwicklungsgeschichte war hier im Mythos völlig aus der Bahn geraten.

Damit ist ein grundsätzlicher Zug des Bestiariums im Werk Jesdinskys angesprochen. Jede Metamorphose, jede Transformation ist möglich, jede Gestalt kann sich in die andere verwandeln. Zugleich treten die wandelbaren Wesen in Interaktion mit den Alltagsgegenständen, die sich dabei ebenfalls zu Tiergestalten verändern können. Bertram Jesdinskys Erklärung in einem Fernsehfilm, die Tiere seien deshalb an die Stelle der Menschen getreten, weil sie leichter darzustellen seien, muß man mit Skepsis begegnen. Der Künstler wollte offensichtlich auf eine falsche Fährte führen, denn den mythisch-magischen Hintergrund seiner explosivartigen sich entwickelnden Fabelwesen kann man nicht übersehen. Die Tiergeschichte führt – weiter als die Menschengeschichte – zurück in fernste Urzeiten und mag auch in eine weitere Zukunft vorausweisen.

Die Bewerbungsmappe für die Akadmie von 1982 (Abb. im Katalog S. 153-157) zeigt das Bestiarium in seinem Werden. Hörnertiere und geflügelte Wesen, Dinosaurier, Lurche, Fische, Echsen, Schlangenwerden auf alten Schriftstücken gleichsam generiert. Hier hat Jesdinsky überwiegend Fundstücke alter Briefe, Akten, Formulare, Atlasseiten für die Zeichnungen gewählt, ein auch in späterer Zeit beibehaltenes Verfahren. Damit ergibt sich ein Grundgefüge, ein geschichtlicher Rahmen, in dem die neue Generation der Tiere wie in einer Höhle hausen kann. Dieser Gegensatz von alt und neu, die Revitalisierung, Animalisierung der Fundstücke und objets trouvés ist ein konstanter Zug des Werks. Der geschichtliche Rahmen gibt den Urtieren des Bestiariums gleichsam ihre Legitimation. Sie scheinen in den alten Akten und Objekten – später in den städtischen Kulissen der Gemälde – ausgebrütet worden zu sein, schlüpfen und krieschen daraus hervor. Besonders interessant sind die Zeichnungen auf Landkarten und alten technischen Konstruktionszeichnungen. Die Höhenlinien der Atlanten führen zu ineinanderverschlungenen Visionen von Tierwesen, aus der landschaftlichen Formation gebären sich fantastische Gestalten. Die technischen Zeichnungen werden umgedeutet zu Kammern, Häusern, Fahrzeugen, in die das Bestiarium eingezeichnet wird. Eine Stahltür wird dann z.B. zur Straßenbahn. Diese Methode der Einzeichnung der zoomorphen Vision in ein vorgefundenes Grundgefüge – und damit der Gegensatz zwischen vorgegebenen Strukturen und ungebärdet sich entfaltender Vitalität – blieb von nun an prägend. Die gesamte Bewerbungsmappe hatte im übrigen den Charakter eines objets trouvé, sie ist in einen alten grauen auf dem Speermüll gefundenen Schnellhefter von 1913 – Marke "Cito" – eingeheftet. Die einzelnen Zeichnungen auf den vorgefundenen Papieren sind dabei zusätzlich auf weitere alte Aktenseiten montiert. Ein ästhetischer und geistiger Grundriss wird sichtbar, der sich mit den großen Malereien ab Sommer 1982 rapide füllen sollte.

Poppig aufgeblähte, farbige Monstergestalten füllen die Papierbahnen und die Nesseltücher der ersten Bilder: die Figuren werden in alltäglichen Situationen nicht ohne Tücken gezeigt. Sie jonglieren mit Kaffeefiltern, kriechen auf allen Vieren am Strand und spielen mit Bauklötzen. Klar herausgeschnittene Silhouettenformen sind häufig bizarr, immer sehr bewegt. Der Kontrast der Farben, der Gegensatz von großen Umrissformen und kleinen Details bestimmt das Bild. Aus Einzelfigurenbildern werden ganze Szenen, manchmal vor abstraktem farbigen Grund, dann wieder in reale Innen- und Außenräume gesetzt. Im März 1983 bemalte Bertram Jesdinsky im Rahmen der Protestausstellung gegen den Abriss des Malhauses " Der letzte Schrei" in diesem Stil einen Dachgeschossraum mit großen Wandbildern. Es war dies seine erste Teilnahme an einer öffentlichen Kunstausstellung. Die Situation eines vor dem Abbruch stehenden Gebäudes hatte den Künstler – wie aufgeführt – schon mehrfach inspiriert. Die Bedrohlichkeit der Situation floß nun erneut stimmungsgemäß in die Wandbilder ein. Zu sehen war eine banale Küchenszene: Eine große blaue Echse mit Wassertopf kommt über eine kleine tanzende Büchse ins Straucheln. Das Bild entfaltete seine ganze Wirkung vor allem, als es beim Abriss später nach außen hin sichtbar wurde. Die Panik der Echsenfigur schien nun reale Berechtigung zu erhalten.

Interessant ist im Dezember 1982 das Intermezzo von drei großen Comic-Strip-Zeichnungen: "Elend der Städte". (Abb. im Katalog S.160-162) Als ein Medium wiederum aus der Subkultur spielte der Comic-Strip damals ähnlich wie das Graffitibild im Kunstdiskurs eine besondere Rolle, indem er eine neue Bildwelt des Trivialen erschloß. Vor allem in Frankreich haben dies die Maler der "Figuration libre", die seinerzeit in Düsseldorf erste Ausstellungen hatten, vorexerziert. Die Comic-Strip-Zeichnung bietet interessante kompositionelle Verknüpfungstechniken: Kettenhandlungen, Drehmomente der Perspektive, Leitfarben des Bildhintergrundes. Der Filmemacher Jesdinsky war hier wohl zunächst angesprochen, weniger der Maler, denn im Comic wird das Einzelbild zerrissen. Jesdinskys Malerei sollte hingegen im Gemälde eine Vielzahl von Szenen und verschiedene Blickpunkte synchron vereinigen. Die Straßenbilder in ihrem Aktionismus der unerwarteten Zusammenstöße, der Unfälle, Katastrophen und Banalitäten führten die Bildwelt zu einer Synthese.

Abstrakte und reale Kulissenformen standen im Wechsel. Die große Papiermalerei "Knutschende Straßenbahn" (Abb. im Katalog S. 99) etwa verzichtet auf jeden topographisch fixierten Anhaltspunkt. Die Straßen scheinen Leiblichkeit zu gewinnen. Wie große gelbe Flüsse lenken sie den Bildstrom vorbei an roten Häuserinseln. Blaue Linien durchs Gelb erscheinen wie pulsierende Adern, auch wenn Straßenbahnschienen dargestellt sind. Alles krümmt sich, verschlingt sich, rutscht aus der Perspektive, kommt kreuz und kommt quer. Als "Knutschende Straßenbahnen" begegnen sich eine große grüne Echse mit dornigem Rückenkamm und ein orangefarbenes Dinowesen mit Schneckenhörnern, einer Schlangenzunge, Flossenfüßen. Die Straßenszene verwandelt sich surreal in eine Urwaldansicht zurück, ganz im Sinne des anarchistischen Sinnspruchs " Unter dem Pflaster liegt der Strand".

Die Städtebilder, Straßenbilder, "kleinen Welten", in denen sich Technik und Natur immer dämonischer mischen, waren einerseits Projektionen der künstlerischen Innenwelt nach Außen, andererseits spiegelten sich hier direkte Ängste, Konflikte, Brennpunkte der Epoche wider. Anfang der 80er Jahre spielte das Thema der Hochrüstung der Supermächte im allgemeinen Bewusstsein eine dominante Rolle. Die Zukunft der Menschheit wurde im Rüstungswahn aufs Spiel gesetzt. Bereits die Graffitis der AGZ waren ein Hinweis darauf, dass diese Fragen der Zeit im Bewusstsein der jungen Künstler eine vorrangige Rolle spielten. Explizit nahm Jesdinsky in seiner Wellpappenskulpturengruppe "Schnellkochtopf", 1984 in der Münsteraner Ausstellung "Im Mittelpunkt Kunst" gezeigt, auf die Aufrüstungsproblematik Bezug. Die Plastik hat sich – wie die meisten Wellpappenarbeiten – nicht erhalten. 1984 hatte Jesdinsky begonnen, sein malerisches Werk ins Dreidimensionale zu übersetzten, um es damit in seiner Präsenz zu steigern. Die Skulpturen gingen direkt aus den Dekorationen und Objekten für die Aktivitäten der AGZ hervor. Eine rote und eine blaue auf den Hinterläufen stehende Bestie mit Reißzähnen rühren mit Raketenlöffeln den "Schnellkochtopf" an. Wiederum ist es eine Straßenszene mit Straßenbahnen, die hier bedrohlich-dämonisch durchgewalkt wird. Feuer speiende Drachen kreisen um den schiffsartigen Topf und signalisieren Gefahr. Als bedrohliche Vision zeigen mehrere Gemälde der selben Zeit Rudel bläulich-gräulicher Bestien, die wolkenhaft am Horizont erscheinen ("Genfer See", 1983, Abb. im Katalog S. 97), durch die Straßen ziehen ("In Paris", 1985) oder die Insel der "Kleinen Welt" umkreisen (Abb. im Katalog S. 108) Als Wellpappemonster setzt der Künstler das Bestiarium direkt in den Raum. Darüber hinaus gab es die Möglichkeit, Malerei und Skulptur zu kombinieren. Figuren scheinen dann aus dem Bild getreten zu sein, sind real greifbare optische Köder, um den Betrachter in die Fabel im Gemälde zu ziehen. Diesen Kunstgriff, das Publikum gleichsam durch das Bild laufen zu lassen, hat Bertram Jesdinsky bei seinem größten Gemälde, dem Triptychon "Ohne Titel", im September 1985 für die Einzelausstellung in der Düsseldorfer Kunsthalle geschaffen, ins Werk gesetzt. Die Gemälde haben sich erhalten, die Wellpappeelemente sind auch in diesem Fall zerstört. Hier handelt es sich nicht mehr um Straßenbilder, vielmehr thronen große Monsterwesen hoch in den Lüften. Die Industrieanlagen einer Stadt werden aus der Vogelperspektive sichtbar, die Bestien benutzen die Stadt als Spielzeug, greifen Fabriken, Autobahnen, Palmen, Kaffeemaschinen, Aquarien heraus, gehen auch maskiert auf Diebestour und stehlen Schmuckstücke. Die Monster sind also Herren über die Stadt, kämpfen auch untereinander um Herrschaft: Herrenmonster knechten Sklaventiere. Im skulpturalen Auto vor dem Triptychon treibt eine große rote Echse mit einer dornigen Schlagwaffe kleinere Tiere an, die bestimmte Funktionen im Automobil übernommen haben. Ein Fisch dient als Vorderrad und muss sich kugeln, ein Vogel mit dem Hammer den Takt des Motors schlagen, ein weiteres Tier dient als Scheinwerfer. Zu sehen ist dabei ein uraltes Auto mit Propangasantrieb, das sich kaum mehr vorwärtsbewegen dürfte. Das Werk des Künstlers gerät offensichtlich ins Fabulieren. Damit war ein Scheitelpunkt im Werk erreicht, von nun an ging der Weg in eine andere Richtung.

An der Ausstellung Treibhaus IV, 1986, beteiligte sich Bertram Jesdinsky mit einer großen Installation aus Küchenmaschinen: "Küma-Park". Diese Geräte aus dem Alltag hatte der Künstler jahrelang auf Trödelmärkten und Sperrmüll gesammelt. Einzelne Küchengeräte waren immer wieder auf den Bildern als Repräsentanten trivialen Gebarens erschienen. Im Kreis der Monsterrichter des Gemäldes "Bestrafung eines Autofahrers, der einen Radfahrer überfahren hat", 1985 (Abb. im Katalog S. 114) hält einer der Tierrichter beim Strafritual eine Entsafter- und eine Rührmaschine auf den Schenkeln, so dass man – wenn man überhaupt ablesbare Bedeutung vermutet – ein Sinnbild für ritualisierte Gewalt im Motiv erkennen möchte. Darüber hinaus erscheinen reale Küchengeräte auch schon in vorausgegangenen Objekten; kleine Groteskstücke mit etwa um eine reale Sauci"re kreisenden Ledertieren (Abb. im Katalog S. 184) gab es schon im frühesten Werk. Ein ausgedienter Elektroherd wird Anfang 1985 in der Arbeit "Tempelchen" zur Basis einer aufgeheizten theatralischen Szene mit Tiergestalten, Espressomaschine, grünem Pappfilter. Wie auf einer Bühne verbanden sich Gefundenes und Erfundenes interaktiv in handgreiflicher Dreidimensionalität. "Küma-Park" von 1986 geht einen Schritt weiter und verzichtet auf alles additive Beiwerk. In der Installation werden Maschinen aus den Jahren 1951 bis 1965 landschaftliches Abbild eines riesigen Stahlwerkgeländes der Jahrhundertwende. In seinem Katalogbeitrag zu Treibhaus IV lädt der Künstler zu einer "unterhaltsamen" Besichtigungsfahrt des Küma-Parks ein. Die Ebene der Malerei ist verlassen, das objet trouvé konstituiert das Werk. Jede Plazierung ist genau arrangiert. Die Installation ist nicht Assemblage, sondern Landschaft. Die Kabel der Geräte bilden verschlungene Wege, Beleuchtung sorgt für weitere Markierungspunkte. Die Kunst der 80er Jahre löste sich damals von der vorausgegangenen expressionistischen Renaissance. Man sprach von "Unexpressionism" (Germano Celant). Die Kunstwerke schienen zu gefrieren, ein deutliches Beispiel für diese Entwicklung geben die Staubsaugerskulpturen von Jeff Koons (1981/86). "In einer Kultur, die nach materiellen Dingen verrückt war, gelang es Koons den einen Gegenstand ausfindig zu machen, für den keiner jemals irgendwelche Gefühle empfunden hatte" (Kirk Varnedoe/Adam Gopnik, "High & Low"). Koons präsentiert die Staubsauger in ihrem ausdruckslosem leeren Design. Bei Jesdinsky erwächst dagegen aus dem Haushaltsgerät eine vielschichtige industriehistorische Landschaft, die unausgesprochen zugleich die Gefangenschaft in anonymen Strukturen signalisiert.

Das Gemälde "Fordmotor V6" aus demselben Jahr legt das Chassis eines Autos vom Lenkrad bis zum Kühler frei, so dass man den exakten Funktionsablauf des technischen Innenlebens sieht – allerdings mit merkwürdigen Veränderungen. Bestimmte Funktionen des Motors werden von Tieren übernommen, sie dienen als Kabel, Verteilerbüchse, Benzinpumpe, Schlauch, etc.. Nur wenige kleine Kammern sind zum Ausruhen als Schlafplatz, Bar oder Tanzraum eingeräumt. Auch die Monsterwesen und Bestien sind fest im Griff des buntverschlungenen Getriebes, sind ins Schema der Technik eingewoben. Die Akzentveränderung gegenüber dem Triptychon "Ohne Titel" aus dem Vorjahr ist unübersehbar. Dort gab es eine herrschaftliche Untergliederung der Monstertiere, aber noch den Spielraum der Bildbühne. Freie Bewegung wird nun überhaupt nicht mehr signalisiert. Als buntes aber unausweichliches Netz füllen die Schlingen der Technik das Bild.

Mit der im Januar 1989 erstmals in der Akademie ausgestellten "Giraffe", setzt die Reihe der großformatigen Tierskulpturen mit farbigem Epoxyharz über Pappe ein. Gleichzeitig entfaltete sich die Reihe der Teppichbilder. Auf der II. Internationale der Papierkunst hatte der Künstler 1988 in Düren bereits seinen "Giraffenteppich" präsentiert. Im Laufe des Jahres 1989 wurden nach der "Giraffe" das "Mondkalb mit Reibekuchen" (Abb. im Katalog S.144), "der Entenzählstein" (Abb. im Katalog S.140) und der Angler (Abb. im Katalog S. 141) für die Ausstellung in der Kunsthalle Baden-Baden fertiggestellt. Im Zentrum der Offene Kulturarbeit Mönchengladbach zeigte man erstmals die variable Skulptur "Serie Baukasten" (Abb. im Katalog S.139). Unmittelbar vorausgegangen waren Gemälde wie "Händeteppich" (Abb. im Katalog S.133) "Häuserteppich" (Abb. im Katalog S.134) und Rolltreppenteppich (Abb. im Katalog S.135). Danach folgte eine tiefe, jahrelange Zäsur im malerischen Werk. Die beiden letzten fertiggestellten Gemälde waren 1991 noch einmal zwei Teppichbilder: "Nizzateppich" (Abb. im Katalog S. 136) und der unvollendete "Fliegenteppich" (Abb. im Katalog S. 137).

Beide Werkkomplexe, die neuen großen Tierskulpturen und die Reihe der Teppichbilder, scheinen im extremen Gegensatz zu stehen. In den Tierskulpturen gewinnen die Tierbilder Mächtigkeit, in den Teppichbildern gefriert die Welt dagegen zum Ornament. Nun sind die Tiere bei genauem Hinsehen aber selbst in ein Ornament eingebunden. Als "Baukasten" – Teile sind sie wie Schachfiguren jedem Zug verfügbar. Der Bär des "Großen Fischzugs" ist anstelle des Fells mit einer Gummihaut abgegossener Fünfmarkstücke überzogen. Der Graffitispruch von 1980 "Hurra, wir (k)leben (am Geld) gewinnt erneut, wenn auch völlig anders, Gestalt. Das Kapitel wird zu einer zweiten Haut, die zugleich panzert und erstickt. Auch der Hirsch aus oxydiertem Kupferblech erscheint wie erstarrt. Das Pferd auf der Wiese wälzt sich zwar, ist aber zu Metallkonstruktion erhärtet. Die Tierskulpturen verkörpern einen immanenten Konflikt zwischen dem Signum der Vitalität, das sie ursprünglich verkörpern, und dem Verlust der Lebendigkeit durch das Ornament ihrer technischen Gestaltung. Wiederum ist aufschlussreich der Blick auf eine zeitgleiche triviale Tierskulptur von Jeff Koons. Die Skulptur aus bemalten Holz "Bär und Polizist" von 1988 zeigt einen lebensgroßen zotteligen Bären mit bunt gestreiftem T-Shirt, der einen Londoner Bobby überragt. Die überdimensionale Kitschfigur ist ein Fundstück aus der Alltagskultur, das nun in einen anderen Kontext- die Kunstszene- gestellt wird und dadurch neuen Kapitalwert erhält. Der Konflikt ist der Zusammenprall zweier Geschmackswelten. Bei Bertram Jesdinskys "Fischzug" steht mehr auf dem Spiel. Ursprünglich Inkarnationen von Vitalität, verliert das Tier vor unseren Augen unaufhaltsam Authentizität und somit Signifikanz.

Hermetisch geschlossen scheint der gedankliche Hintergrund des Werks der letzten Jahre. Der Künstler hatte größere räumliche Dimensionen vor Augen, wie das Konzept für eine Installation – ohne Titel - von 1989 deutlich macht. Zur Aufstellung seiner neuen großen Skulpturen dachte Jesdinsky hier an einen höhlenartigen Raum, einen "vollständig neuen, abgeschlossenen Raum im Raum". Wellpappe als Wandmaterial sollte den Höhlencharakter unterstreichen. Daneben sollte sich ein großer Kuppelraum mit farbigen Glasfenstern, aber ohne Skulpturen öffnen. Eisentreppen führten zu Balkons und zu einem Ausguck auf den Höhlenraum. Das Gebäude, das – so der Künstler – durchaus Sakralbau-Charakter haben sollte, wurde jedoch nicht realisiert, lediglich zwei kleinere Räume kamen zur Ausführung. In der Ausstellung "Cicero" in einer alten stillgelegten Druckerei wurde 1990 die Skulptur "Mondkalb mit Reibekuchen" wie eine Kultfigur in einem labyrinthtaften Raumgefüge aus Wellpappe präsentiert. 1991 war der "Flachbau" im Düsseldorfer Hafen Kulisse für den Raum "Kirche für Autofahrer" (Abb. im Katalog S.145) mit einer Tankerskulptur und mit Glasfenstern, die das Bild von Ölraffinerien erscheinen lassen. Jedes Mal war der Besucher als Person in die Installation mit einbezogen, war eine Art vom Fluss der Zeit losgelöstes Refugium, ein transhistorischer Ort, geschaffen. Damit ist ein Bogen zurück zum Film "Im Rhenushaus" von 1981 geschlagen, wo ebenfalls Räume sakralhaft präsentiert wurden.

Auch die Teppichbilder scheinen sich aus dem Fluss der geschichtlichen Zeit herauszulösen: sie greifen traditionelle Muster vor allem persischer Webkunst wieder auf und füllen sie mit neuem Inhalt. Die Aufteilung der Teppiche in Bordüren, Streumuster, Medaillons entspricht der hergebrachten Tradition.

Beim "Händeteppich" von 1988 (Abb. im Katalog S.133) erscheinen Reihungen von Händen und Leitern in den Bordüren sowie Abbildungen von Utensilien des alltäglichen Lebens in den Dreiecksfeldern: Sandalen, Getränkedosen, Spielkarten, Würfel, Radios und Musikkassetten. Die Streumuster zeigen in Stücke aufgeteilte Tierfiguren und Kieferknochen. Das Mittelmedaillon vereint Wasserfontänen, ein Mühlrad, Fische und Kochutensilien. Wie ein Bilderrebus sind die Gegenstände ausgebreitet. Der räumliche Zusammenhang einer Szene ist aufgegeben, das strukturelle Ordnungsprinzip des Teppichmusters bestimmt das Bild.

Der "Nizzateppich", 1991 während des Aufenthaltes in der Villa Arson geschaffen (Abb. im KatalogS.136), gibt zumindest mit dem Mittelmedaillon und mit dem sonnenhaften leuchtenden Gelb als Hintergrund – "Neapelgelb" wird die Farbe auf einer Vorskizze genannt – einen Hinweis auf die Topographie des Entstehungsortes. Das Medaillon zeigt nämlich ein Schiff vor einer Burg mit Turm und Zisterne, also eine Mittelmeerszene. In den Seitenmedaillons sind Echsen mit Blättern untergebracht. Als Streumuster erscheinen katzenartige Tiere, die zum Teil wiederum zerstückelt sind. Die Bordüre ist nicht durchgehen, was dem Teppichbild landschaftliche Weite gibt, es schein sich nach oben in gelbes Licht aufzulösen.

Am rätselhaftesten ist die Bildweite des letzten Teppichs, in den Überlieferung "Fliegenteppich" genannt (Abb. im KatalogS.137). Die Zeichnung einer einzelnen Fliege war, dies am Rande, bereits Bestandteil der Bewerbungsmappe von 1982 und ein Filmscript aus dieser frühen Zeit führt als Bildeinstellung "das Töten der Fliege" auf: " Der Hund mit Zange versucht Fliege im Aschenbecher zu töten". – Hier im Teppich bekommt das Insektenthema einen völlig neuen Hintergrund. Wieder meint man vor einem Bilderrebus zu stehen, die schematischen Darstellungen auf der Bordüre lassen sich noch am einfachsten erschließen. Sie sind zudem durch Auflistung auf vorbereitenden Skizzen festgehalten. Hier werden genannt: Schmetterlinge, Käfer, Futter, Geld, Wein, Essen, Salbendosen, Münzen, Schweineeimer. Man erkennt auch Brot, Spritzen, Schmuck, Das linke Medaillon zeigt eine Retorte mit Mückenlarven. Durch Schlauchsysteme werden die ausschlüpfenden Insekten in die Teppichfelder geführt, nämlich in großen Salbenschachteln ("Salbe" wird auf den Skizzen ausdrücklich festgehalten), in denen unten ein Schwein werden von Mückenschwärmen überfallen und gestochen. Im oberen rechten Feld, in dem ein Ventilator für frische Luft sorgt, schlagen zwei kleinere Tiere die Mücken mit Fliegenklatschen tot, ein kleines Einhorn beobachtet sie dabei. Im unteren rechten, unvollendeten Feld, in das kein Verbindungsschlauch mehr führt , sitzt eine Vogelgestalt an einem Caféhaustisch und saugt mit einem Strohhalm aus einem Glas. Das Mittelmedaillon wird auf den vorbereitenden Skizzen mit dem Schema von Bodenmosaiken in Verbindung gebracht. Wieder steht der Betrachter vor einer verschlossenen, rätselhaften Welt. Persönliches und Kulturhistorisches scheinen sich zu mischen. Die Retorte im Medaillons scheint auf eine Art Versuchsanordnung hinzuweisen. Es ist überliefert, dass sich der Künstler zuletzt mit den Schriften der Ethnologen Claude Lévi Strauss beschäftigt hat, das Teppichschema könnte mit strukturalistischen Denken in der Tat leicht in Verbindung gebracht werden: Verschiedenste Dinge an verschiedensten Orten zu verschiedensten Zeiten gehorchen einem vergleichbaren Muster. Interessant ist die Überschrift des Künstlers auf einer der vorbereiteten Skizzen: "Organisiert euch in kleinen Gruppen". Der anarchistische Anfangsimpuls der frühen Zeit war vorbei und mit ihm die ständige Figurenmetamorphose.

Diese bildhafte Erstarrung fand in dem letzten fertiggestellten Werk, dem "Basilisken" (Abb. im KatalogS.149), eine beredte Metapher. Die Skulptur, die wiederum auf Ausführungen in dem Buch "Drachen, Riesen, seltsame Tiere gestern und heute" zurückgreift, nimmt zwar wieder das frühe Thema der Fabel- und Drachengestalten auf, aber anders. An die Existenz des Fabeltiers, dessen Namen sich ableitet vom griechischen "basileus" (=König), wurde bis ins Mittelalter geglaubt. Der Basilisk galt als König aller Schlangen und trug so meist eine Krone, wies aber zugleich Gestaltmerkmale von Eidechse, Kröte, Hahn auf. In jedem Fall war dies eine schreckenserregende Gestalt, deren Atem und deren Blick der Sage nach tödlich waren. Doch auch dieses letzte Werk sollte nicht zu einer metaphorischen Sinnfigur eingeengt werde. Das Thema des Bestiariums im Werk Jesdinskys stand im ständigen Fluß. Dass es dabei nie zum Emblem, Symbol gerann, dass es offen blieb für neue Entwicklungen, neue Erfahrungen, hält das Werk zusammen.

Stephan von Wiese

"Ich suche immer weiter"
Fragmente aus einem Gespräch mit Bertram Jesdinsky

Bertram Jesdinsky war einer der großen Hoffnungsträger seiner Künstlergeneration. Sein unerschöpflich reiches Potential an künstlerischer Kraft und Erfindungsgabe überraschte und faszinierte. Eine Aura der Verinnerlichung, der Besinnlichkeit umgab diese junge, gebildete Persönlichkeit. Dennoch war er ein kompromissloser Unruhegeist, wenn es darum ging, bisher unentdeckte Kunstwelten auch aufgrund neuer Techniken und Materialien zu erforschen und zu erschließen. Seine von Neugier getriebene Experimentierfreude, sein unkonventioneller Umgang mit Materialien wie Pappe, Kunststoff, Lochblech, Gummi, Kupfer und Sulfaten hat eine sehr eigenwillige, eigenständige und neue künstlerische Dimension entstehen lassen. Bertram Jesdinsky hat trotz seines frühen Todes ein gewichtiges Werk hinterlassen, das auch im historischen Rückblick Bestand haben wird.

In den Jahren 1989 und 1990 erhielt Bertram Jesdinsky ein zweijähriges Förderstipendium der Günther–Peill-Stiftung Düren. Aufgrund seiner außerordentlichen Begabung wurde die Förderung um ein drittes Jahr verlängert. Aus Anlass der Abschlussausstellung zum Stipendium im Leopold-Hoesch-Museum entstand am 3. April 1991 im Düsseldorfer Atelier, Ackerstraße 29a, die Aufzeichnung einen Gespräches. Dieses wir im folgenden in Ausschnitten wiedergegeben.



D.E.: Sie schaffen heute anatomisch korrekte Tierplastiken.

B.J.: Ja, das ändert sich. Früher nahm ich keine Rücksicht auf Anatomie. Dann aber interessierte mich die Anatomie der Tiere. Das begann mit dem Pferd. Danach wurden die Tiere realistischer, beispielsweise der Hirsch. Dann denkt man, man könnte es sich wieder einfacher machen (ohne Rücksicht der Anatomie) wie zuvor, aber das geht dann nicht mehr.

D.E.: Wie kommt es, dass Sie es in der heutigen Zeit wagen, realistische Tiere zu gestalten? Anfangs, in ihrer Malerei , formulieren Sie eine comichafte Handschrift mit bewusst falscher Perspektive, wenn ich dies so sagen darf. Im Laufe der Zeit werden sie immer realistischer, orientieren sich immer mehr an der Natur.

B.J.: Ich denke, das passiert einfach. Es gibt kein Konzept, kein Programm, keine Strategie.

D.E.: Und warum Fabelwesen?

B.J.: Als ich anfing, Kunst zu machen, war ich Hausbesetzer. Als es zu langweilig wurde, Parolen zu sprayen, bemalten wir Hauswände, dabei entstanden die Tiere. Damals entwickelte sich diese Formensprache der einfachen Umrisse, die Figuren treffend darstellt. Die Figuren erhielten bestimmte Merkmale. Sie hätten auch Menschen sein können. Grob betrachtet sehen die Menschen alle gleich aus. Man bezeichnet sie als Tiere, um bei ihnen bestimmte Eigenschaften aufzuzeigen. Das ist ein uraltes Prinzip, angewandt seitdem Menschen malen und zeichnen. In meinen früheren Bilder ist es oft so, dass alle einigermaßen belebten Gegenstände und Wesen als soche Tiere dargestellt werden, so z.B. auch Autos und Straßenbahnen.

D.E.: Wie arbeiten Sie als Künstler?

B.J.: Es hat mir immer viel Spaß gemacht, Sachen zu machen, die man später wieder zerstören konnte und die dennoch unsterblich sind. Sie bleiben in den Köpfen der Leute und entwickeln ein Eigenleben. Das ist ein hoher Anspruch. Ich nehme mir nicht vor, irgendein geheimnisvolles Wesen zu basteln und hinzustellen. Es entsteht einfach. Es stellt eine der Realisierungsmöglichkeiten von Gedanken, Gefühlen usw. dar. Alles fließt hinein. Das Ergebnis ist nur eine der möglichen Erscheinungsformen. Ich könnte auch versuchen, in einer Zeit, aus einem Beweggrund, beispielsweise fünf Skulpturen zu schaffen. Es könnten dabei fünf relativ gleiche oder fünf ganz verschiedene Versionen entstehen. Es ist nicht kalkuliert. Natürlich versucht man, eine neue Welt zu finden oder aufzubauen. Das ist eine sehr befriedigende Art zu arbeiten, vor allem wenn man dabei auch für sich selbst überraschende Ergebnisse erzielt. Ich bin gespannt, was hier noch passiert.

D.E.: Arbeiten Sie nach Vorlagen?

B.J.: Wenn ich einen Hirschen mache, orientiere ich mich an einem Hirschen. Ich habe eine große Sammlung an Postkarten, z.B. von früher Kunst. Aber als Vorlage nutze ich sie eigentlich nicht. Als ich das Pferd erarbeitete, benötigte ich Fotos von einem Pferd, das sich auf dem Boden wälzt. Von einer Nachbarin habe ich ein sehr unscharfes Foto bekommen. Als ich fertig war, kam jemand mit einer Sammlung von 100 Fotos von Pferden, die sich auf dem Boden wälzen. Oft kommen die Vorlagen wenn ich fertig bin und selbst mehr darüber weiß. Beim Hirschen beispielsweise bog ich die Kupferplatten nach eigenem Gusto. Erst danach fand ich ein Buch, in dem zu lesen stand, wie Kupferblech zu behandeln ist.

D.E.: Was hat es mit ihrer Giraffe auf sich, die die Günther-Peil.Stiftung besitzt?

B.J.: Die Giraffe ist die erste große Skulptur, die ich aus Epoxyharz machte. Sie ist die erste Figur, bei der ich mich mit der Anatomie beschäftigte. Ich versuchte, die Natur als Vorbild zu nehmen. Die Figuren vorher waren nicht direkt festgelegt und mussten nicht direkt erkennbar sein. Die Giraffe taucht in den früheren Gemälden immer wieder auf. Meine Vorliebe für die Giraffe? Ich hatte eine Freundin, die ich als Giraffe darstellte, oft mit einen Rotweinglas. Auch die große Giraffenskulptur sollte ein durchsichtiges Rotweinglas halten. Aber es war technisch zu schwierig, es herzustellen. Ich wollte das Glas eigentlich aus Plastikzement machen.

D.E.: Wie kamen Sie zu den begehbaren Skulpturräumen?

B.J.: Anfangs malte ich fast nur große Bilder, weil ich wollte, dass der Betrachter dadurch mitten im Bild drin ist. Im Anschluss an das Straßenbahnbild entstanden Gemälde, die sehr viel kleinteiliger angelegt sind, in denen viele Geschichten erzählt werden und der Betrachter zwar davorsteht, aber praktisch mitten im Geschehen ist. Daraus entwickelten sich dann die Skulpturenräume, in denen man durch das Bild hindurch gehen kann. Das war die Idee des Environments, durch die man durchlaufen und immer wieder neue Räume sehen kann.

D.E.: Phantasie und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart, Raum und Zeit greifen ineinander. Wie kamen Sie zur Pappe.

B.J.: Aus Pappe wurden die Skulpturen und Environments hergestellt, weil Pappe ein preisgünstiges Material und die Verarbeitung einfach ist. In den 80er Jahren habe ich zusammen mit Kollegen, so mit Stephan Ettlinger, Filme gemacht. Zu den Filmen führten wir schließlich auch Performance und Musik, eine Art Theater, auf. Ich baute die Dekorationen dafür aus Pappe. Diese wurden für eine oder auch drei und vier Aufführungen gebraucht. So kam ich zu Pappe. Mich interessieren alle Materialien, Ich suche immer weiter. Man lernt ganz lange, kann schließlich alles, ohne sich mit der Technik auseinandersetzen zu müssen. Erst dann kann man seine Ideen einfach verwirklichen, wenn sie unabhängig von der Technik stehen.

D.E.: 1984 in Innsbruck durchbrachen Sie erstmals die zweidimensionale Fläche des gemalten Bildes und installierten Figuren und Objekte im Raum aus Pappe.

B.J.: Die Tankstelle war die erste Papparbeit. Sie war ursprünglich Dekorationsstück für eine Performance "Persischer Golf und englischer Rasen", in der ein Scheich an einer Tankstelle seinen Teppich auftankt und überfallen wird. Die Tankstelle passte genau in den Kofferraum meines Autos. Ich nahm sie mit nach Innsbruck und baute den Rest vor Ort dazu.

D.E.: Von nun an entstanden eine Reihe großer Raumarrangements aus Pappfiguren und Pappgegenständen wie beispielsweise in der Ausstellung "Cicero" oder in der Galerie Krings- Ernst.

B.J.: Bei der Beschäftigung mit dem Material kommt man auf neue Ideen. Ich muss eine Beziehung zum Material haben. Die Pappsachen sind bemalt. Pappe hat ja auch ein schönes eigenes Leben.

D.E.: Weil Pappe instabil ist, suchten Sie nach Möglichkeiten, das Material zu festigen. Sie fanden Epoxyharz als geeignetes, festigendes und farbiges Material für ihre Räume und Tierfiguren.

B.J.: Um mir die Epoxyharzbeschichtungen zu erleichtern, baute ich eine Maschine mit einem motorbetriebenen großen Schwungrad von zwei Metern Durchmesser. Es drehte sich relativ langsam. Die einzelnen Teile wurden mit ihrer Achse aufgesteckt. Aus Plastikfolie baute ich eine Kammer mit Abzug. Ich habe lange gebraucht, bis es funktionierte. Aber als es funktionierte, war es nicht mehr so besonders spannend. Man kann es natürlich noch in allen mögliche Variationen anwenden, aber es hat mich dann nicht mehr interessiert. Hinzu kam, dass ich mir Sorgen machte, weil die Substanz giftig ist. Mich interessierten andere Materialien. Ich weiß nicht wie andere Kollegen das machen, jahrelang an einem Thema hängen zu bleiben. Manchmal meine ich, du machst zu viele verschieden Sachen. Aber wenn es mich interessiert, denke ich, gibt es auch brauchbare Ergebnisse.

D.E.: Ihre Skulpturen sind nicht massiv, sondern aus Flächen zusammengesetzt.

B.J.: Man kriegt ein Gefühl für die Fähigkeiten, die man hat. Ich traute mir nicht zu, aus einem Block zu hauen. Ich bin immer sehr von der Fläche ausgegangen. Auch bei den Metallen ist es so, dass ich Flächen aneinander setzte. Das ist keine Bildhauerei im eigentlichen Sinne. Obwohl ich beim Schwein und beim Bären richtige Bildhauerei betreiben musste. Beim Pferd ist die Oberfläche durchsichtig. Man kann hindurchsehen. Das Pferd hat keine innere Versteifungskonstruktion wie die anderen Tiere. Es besteht nur aus einer Außenhaut. Es folgte dann der Hirsch, dessen Oberfläche wieder von allen Seiten geschlossen ist. Er ist aus Kupfer, weil dieser leichter zu biegen ist. Auf die Oberfläche gab ich eine durchsichtige Flüssigkeit, durch die sich die Patina von selbst bildet. Anschließend, beim Schiff, verwandte ich verschiedene Materialien. Eisen und Kupfer.

D.E.: Und nun kommen Sie erstmals wieder zum Bild zurück, und zwar nicht zum gemalten Bild. Vielmehr bestimmt das Material selbst durch Reaktionen auf Sulfate die Komposition.

B.J.: Ja, bei den Salzbildern. Beim Patinieren des Hirschen legte ich eine Platte Kupfer unter. Dann hänge ich mir diese Platte an die Wand, weil ich sie schön fand.

D.E.: Das ist an sich ein logischer Bogen.

B.J.: Aus dem Bild raus und wieder ins Bild rein. Irgendwann will ich wieder richtig malen.

Dorothea Eimert


Katalog: Bertram Jesdinsky - Album No 1, (Hrsg. Leopold-Hoesch-Museum und Günther-Peill-Stiftung sowie Krings-Ernst-Galerie, 1991)


Günther-Peill-Stiftung | Hoeschplatz 1 | 52349 Düren | fon 02421 2525 61 | fax 02421 2525 60 | email