Martin Assig
Ceraphanien • Durchscheinende Bilder aus Wachs

Bilder stehen Paten für Bilder. Kunst ist gesättigt von Kunstbetrachtung. Das betrifft besonders zu für anfangs umstrittene Künstlerpersönlichkeiten wie Degas, van Gogh, Cézanne, Duchamp, Beckmann, auch für Giacometti, Beuys, Baselitz. Die Kunst bezieht ihr Selbstverständnis offenbar aus der Rücksprache mit dem Geflecht der vorgefundenen Kunst. Die Künstler leben mit diesen starken Herausforderungen. Der Gedanke an bloße Nachfolge oder an einfache Reaktionen erfasst den Vorgang in seiner Tiefe nicht.

Die Bilder kommen und gehen. Sie überleben wie Totgesagtes, erwirken bald nicht mehr Nachtbilder, sondern Gegenbilder. Die Ungeduld bringt Bildsequenzen ins Spiel. Aber vorübereilende Folgen ersetzen Bilder nicht, führen eher die Ohnmacht gegenüber den Bildern vor Augen. Bilder müssen in Ruhe vernommen werden, sollen von Augen umsponnen werden. Die Verbannung der Bilder erzeugt nicht Bildlosigkeit, sondern lässt andere Bilder einströmen.

Die Herrschaft des stillgelegten Blickes, deren Präzeptoren in der Malerei die Brüder van Eyckgewesen sind, hat kostbare Bilderschätze anhäufen helfen. Aber diese Zeit ist zu Ende gegangen. Das Paradiesgärtlein, eines der ersten Leitmotive der Epoche, ist aufgebrochen und aus dem Bilder schatz ist eine Ansammlung von Zitaten zu beliebiger Verwendung geworden. Als Zitate sind Erinnerungen und Gegenstände des Alltags gleichwertig, auch Gegenstände aus exotischen Bereichen, und so hat sich eine Flut von getragenen Kleidern, benutzten Gefäßen, Werkzeugen, Wanderstäben und Idolen in die Kunstpraxis ergossen.

Gewiss besteht ein Unterschied, ob die Hochzeit von Kana als eine Geschichte dargestellt wird, oder ob sie die Erinnerung an die Wunderbare Verwandlung von Wasser in Wein durch die Gefäße selbst repräsentiert wird, wie in den Sammlungen mittelalterlicher Kirchenschätze.

Maria ist als Fürbitterin der Menschheit im Schutzmantel dargestellt worden. Erwächst nicht eine tiefere Bedeutung, wenn die getragenen Kleider, etwa Jeanshosen, mit der Schutzmantelerinnerung verbunden werden? Die mittelalterliche Legende hat nur wenigen Gestalten, außer Christus und Maria, den Jünger Johannes, mit Gewändern hoher Wunderkraft ausgestattet, die zu Bluten begannen, wenn man sie durchstach, wie Häute am lebendigen Leib. Darf man daran erinnern, solange Menschen von anderen Menschen bei lebendigem Leib zerrissen werden.

Aus Kirchengrundrissen entwickelt Martin Assig Gewänder und aus Kleidern Kirchenbauten. Das Bild alter Weltkarten, die uns alle Weitläufigkeit zu Füßen legen, alte Idealpläne, verschränkt er mit den unseligen Höllenanlagen unserer Tage, den Lagern Auschwitz und Buchenwald. Indem die hellen und die dunklen Male der Geschichte von unendlichen Bändern und Kreisläufen übersponnen werden, sind die Enden mit den Anfängen unlösbar verbunden. Die Geschichte bleibt bewahrt.

Eines der frühen Hauptwerke von Martin Assig, 1985 entstanden, trug nacheinander die Titel: Opfer, Nest, Lamm. Vom Operationstisch des Vorentwurfs aufgestanden, schreitet ein Mann mit entblößtem Oberkörper (selbstbildnishaft) durch niedriges Wasser. Ein Zwischenwesen aus einem Christopherus und einem Christus der Kreutztragung. Arme sind nicht zu sehen, aber auf den Schultern liegen Äste und ein Nest, wie eine Dornenkrone, wächst über dem Kopf hervor. Die Gestallt ist aus drei alten Tischplatten herausgehauen, ein Bild, das den Künstler überwältigt zu haben scheint. Der Holzton golden neben gedämpften Schichten von farbigem Wachs. Gesicht und Schultern sind von weißem Wachs bedeckt, schimmern sanft auf. Die im Ausdruck halbverhüllte Gestallt erscheint von großer Entschlossenheit. Im Vorangehen zerteilt sie die Fläche.

Das Relief lehnt sich an eine Reihe von Zeichnungen an, die kniende oder stehende Heiligengestalten zeigen, kräftig gebildete Figuren, die über Wasserstellen beten und predigen und aus deren Augenhöhlen Ströme fließen. Später erscheinen Glieder der Figuren verdichtet, die Köpfe abgedreht, wie auf Explosionszeichnungen, auf denen Mechaniker ihre Erfindungen festzuhalten pflegen. Vom letzten Aufschrei gekrümmte Körper, wie von wilden mittelalterlichen Kruzifixen, zeigen sich. Die körperliche Kraft, das Volumen und das Aufleuchten der frühen Heiligenfiguren ist unvergesslich. Danach ist alle Energie nach innen gekehrt. Die Körper verlöschen. Anstelle von Armen ertasten wir nur noch Stümpfe. Aber die Stümpfe halten Gewichte. Die Gesten werden zurückgenommen, die Handlungen gedämpft, Formen der Verneigung ,Stäbe deuten die Einordnung in neue Kreisläufe an. Alle Bewegung ist wie beim Schlaf zurückgenommen. Pfahlartige Gestalten, in Verhüllungen gefangen, bilden Gruppen in Kreisen. Der Sinn für Netze, Gerüste, Kreisläufe ist geschärft.

Von den Mumien haften Gestalten bleiben zuletzt die Hüllen. Die Bilder werden von neuen Bildern durchkreuzt, ein Vorgang, der sich im Werk Martin Assigs wiederholt. Leere Gewänder zeigen Ausbeulungen kräftiger Körper, Organisches, Gehirn, Gedärm, das Herz, die Adern, Gebärmutter und Hoden sind angedeutet. Behältnisse sind nicht nur Kleider, auch Hülsen, Schoten, Körbe, Reusen, Käfige, Netze, Verbände, Umwicklungen wie für Mumien. Das Arsenal eines Krankenhauses scheint auf. Manche Gefäße sind im Verbund, Transfusionen finden statt. Bruchstücke kirchenslavischer Inschriften erscheinen wie Glorien einzelnen Gewändern zugeordnet. Die Hosen sind der Form von Altartischen angenähert, die Frauenkleider Doppelturmfassaden.

Dieser nur Angedeutete Wandel bezeichnet die Vorgeschichte der Arbeiten in dieser Ausstellung. Das Verlöschen der Figuren hängt mit dem Misstrauen gegenüber Pathosformen zusammen. Gesicherte Elemente der künstlerischen Praxis wurden dieser Einschätzung geopfert. Das Figurenzeichnen klassischer Art wurde beiseitegelegt. Immer wieder wird das eigene Werk in Frage gestellt. Widerstrebende Materialien lassen den Zufall ins Werk einfließen. Die Körperbewegungen gerinnen. Die Formen werden gedämpft, gebündelt, von nachdrängenden Vorstellungen überwölbt. Die Gesichter scheinen verstellt.

Das Material der Bilder ist Wachs. Weiß, gelblich oder leicht gefärbt, manchmal zu Kaskaden gehäuft, wirkt es wie eine geronnene Flüssigkeit oder wie eine durchscheinende Haut über wechselnden Gründen. Das fließen des Materials mit den Grenzen seiner Farbdurchdringung, sein Duft, sein Stocken beim Erkalten, die Möglichkeit es abzuschaben, Zufügungen anzuschmelzen üben einen großen Reiz bei der Arbeit aus. Auch ist das Wachs geduldig und schließt Stoffe anderer Art ohne Schwierigkeiten ein.

Auch bei Papieren und außerhalb der Wachsbildnerei ist das Beschichten mit Formen zu beobachten. In diesem Zusammenhängen ungebräuchlicher Materialien, wie Bleistift und Kugelschreiber, werden verwendet, um Flächen auf Pinselzeichnungen zu überarbeiten. Es werden Gewichte aufgebracht, und es geht um Stoffliche Unterscheidungen. Nicht Gebilde aus Licht und Schatten sind im Spiel, sondern Substanzen. Die Arbeit besteht aus Anhäufungen und Anhängungen, freilich von subtiler Art.

Trotz der plastischen Arbeitsweise ist die Bildfläche sorgfältig respektiert. Das Papierformat ist als ein Block zu betrachtet, aus dem die Form gewonnen wird. Die Satzungen des Bildraums werden nicht berührt. Nie ist die Bühne des Bildes infrage gestellt. Das Verknäulen der Motive und das Schichten des Materials schaffen vielfach Aneinanderkettungen. Nicht eine vorgefasste Idee bricht sich Bahn, sondern Bildvorstellungen werden auf ihre Haltbarkeit geprüft. Es geht um Ergebnisse, die standhalten können. Ein Feld wird gebaut durch Bilder oder Behältnisse.

Botschaften vermitteln Bildtitel wie "trösten, lügen, trösten". "essen, eilen, stolpern" findet sich in das Drahtmodell einer Kirche eingeflochten, und an anderer Stelle ist zu lesen: "irgendwann sterbe ich noch oder nicht". Die Gegenwart wird in diesem Werk beschworen und der Ausblick auf die Ewigkeit. Die Gedanken umkreisen Personen und Welten. Fragen werden aufgeworfen, Antworten werden nicht gegeben. Nicht einmal der Versuch wird unternommen die Probleme einzuebnen. Noch oder nicht bleiben gleichberechtigt. Unendliche, vielleicht vergebliche Kreisläufe sind in diesen Werken eingefangen. Manchmal verbinden Leinenbänder die Initialien des Künstlers mit dem Zeichen des Todes. Andererseits ist mit Zeichen und Wortbruchstücken aus anderen Sprachen gearbeitet, gleichsam mit universalem Anspruch. Das Individuelle und das Allgemeine sind immer zugleich zu spüren. Das Werkzeug des Todes liegt neben dem Lebensbrunnen. Der Tod steht neben dem Mädchen.

Zeichen werden aufgerichtet. Fahnen werden entrollt. Das Rot alter Bilderteppiche kommt zum Tragen. Dunkelrote Sterne auf dichtem dunklen Himmel: die Lichter sind dunkel in diesem Werk. Schwarze Glorien stehen über dunklen Ikonen. Die gedämpften Farben katalanischer Wandmalereien sind nahe.

Die Betrachtung umkreist spätgotische Kruzifixe, den Sterbenden Christus von Guido Reni, russische Ikonen. Bei genauerer Nachfrage stellt sich manche vermutete Entlehnung als nachträglich übereinstimmung heraus. Als "Meister im Hinterherfinden" bezeichnet sich Martin Assig in solchen Augenblicken.

Wachs stillt als Material die Formen. Es trübt die Gläser, die es überfängt, es hindert Farben am Aufleuchten. Seine weiche Haut könnte man leicht verletzten oder abschälen; ein warmer Hauch genügt um es zu lösen. Aus drei grünen Körpern eines gefundenen Bildes steigen helle Bänder Wachs empor, dunkle Bänder fallen wie sanfte Schmelzflüsse nach unten. Der Bildtitel "Zungen (geistig)" ist nachträglich hinzugefügt. Der Atemhauch der in diesem Falle die Gegenstände umgibt, ist vielleicht das feinste Beispiel der Möglichkeiten dieser Technik.

Materialbeschreibungen stehen an dieser Stelle als Gleichnisse für die entscheidenden Formfindungen des Werks. Bei allen Entscheidungen geht es um Bildräume, um haltbare Bildlösungen. Das Abstreifen der Figuren dient dazu, die Welt der Figuren zu bewahren. Das Bild wird belastet und aufgeladen. Gleichgewichte sind angestrebt. Ausgeschaltet bleibt, was den Spannungen widerstrebt. Bilder werden gewonnen aus dem Wagnis des Aufklaffens. Ungleichgewicht, Unruhe und Unordnung werden im Augenblick der Entscheidung in Kauf genommen. Das Wachs als vermittelndes Material fügt sich sehr gut in dieses Vorgehen ein. Präzision und Leichtigkeit mancher Lösungen werden dem Zeichen verdankt.

Der Unbegreiflichkeit des Himmels antwortet die begriffliche Unausschöpflichkeit der Bilder. Dem unermesslichen Gewölbe werden Schalen entgegengehalten. Das Werk ist als ein Gefäß zu betrachten, dessen Gehalt ohne Prüfung nicht verschüttet werden darf. Das Alltägliche, Massenhafte ist nicht ausgeschlossen, eher verstärkt, und viele vergessene Heiltümer sind am Leben. Die gerade gültigen Standardvorstellungen nach dem Wirken Josef Beuys berühren auch dieses Werk, wie die Arbeiten anderer Künstler dieser Zeit.

Im Falle Martin Assigs zählt das Geburtsjahr 1959 und zählen die Orte Barsinghausen, Assisi, Bergen-Belsen, es zählt die Ausbildung in Berlin bei Hans-Jürgen Diehl, die Arbeit in Berlin-Kreuzberg und in Brädikow, aber auch in dem Sinn, dass sich Räume öffnen, die mit Bildern erfüllt werden können. Im Streben nach Dauerhaftigkeit wurden künstlerische Fertigkeiten beiseite geschoben, die schwer zu erringen sind. Sie wurden behandelt wie ein Prunkmantel, den man ablegt, wenn man in die Tiefen des Waldes eindringen will.

Werner Schade

Katalog: Martin Assig - Bildtafeln, Zeichnungen, Objekte (Hrsg. Leopold-Hoesch-Museum und Günther-Peill-Stiftung, 1994)


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